Streifzug des Ammerseer Bauerntheaters in historischen Kostümen/Hanni Göppel führt mit ihrer Theatergruppe durch ein Stück Herrschinger Zeitgeschichte/90 wunderbar kurzweilige Minuten///
Immer wieder donnerstags weht ein Hauch aus der alten Zeit durch Herrsching: Als wären wir in einer Zeitmaschine, stolzieren Figuren in historischen Gewändern durch Gassen und Straßen. Im Schlepptau ein ambulantes Publikum, das gerne unter den imaginären Vorhang guckt, den das Ammerseer Bauerntheater lupft und einen humorvollen Blick freigibt auf den Ort im frühen 20. Jahrhundert. Als der Gmoa-Rod, heute als Gemeinderat bekannt, noch im Hinterzimmer eines Wirtshauses so lange über den Bau eines Rathauses abstimmte, bis der Bürgermeister endlich seinen Willen hatte. Und die Bahn jede Viertelstunde Sonderzüge von Pasing an den Ammersee einsetzte, wenn die Wetterfahne auf dem Bahnhofsdach weithin sichtbar verkündigte: Leit, sche Wedda is.
Ein ganzes Theater-Ensemble mit Hanni Göppel und Monika Jäger, Reinhard Förster, Brigitte Stabbauer, Dieter Veicht, Uli und Steffi Nett, Sarah Maier und Magdalena Römmelt, Barbara Menth und Johanna Lishek, Karin Zibell und Claudia Czasny sowie Jakob Lishek erzählt an wechselnden Schauplätzen, wie Herrsching vor hundert Jahren tickte. „Aber wir sind kein Geschichtsbuch, wir sind ein Theaterverein“, sagt Moderatorin Hanni Göppel. Selbstverständlich stammen die Geschichten nicht aus der Phantasie, sonden aus historischen Quellen, aus den Büchern von Hans Radl, den Schriften von Gustl Empfenzeder, aus Alben von Willy Gross und aus Forschungen der Gemeindearchivarin Friederike Hellerer.
Die Führung durch die Geschichte beginnt am Bruckerl überm Kienbach: Der Bach wird plötzlich zur Donau, wenn aus den Lautsprechern einer mitfahrenden Rikscha ein Walzer ertönt. Steffi und Uli Nett schwingen auf dem Straßerl das Tanzbein, festlich gezirnt mit Zylinder, Smoking und Festkleid.

Die erste Station ist die wechselvolle Geschichte des Café Flora, das einmal Cafe, Weinstube und später sogar eine Disko war. Arm war Herrsching zwischen 1900 und 1920 nicht an gastlichen Häusern: 12 Hotels, Gasthöfe, Wirtshäuser und Cafes warteten auf Fremde, die ab 1903 mit der frisch gebauten Eisenbahn anreisten. So gab’s ein Bahnhofhotel (heute Andechser Hof), ein Waldhotel mit Gepäckmuli-Service, den Seehof mit eigener Badeanstalt, das Strandhotel Seespitz, das Fußballerheim in Wartaweil und ein Hotel Sonne mit Bad, Waldrestaurant und hauseigenem Motorboot.
Über den schmalen Förster-Mayr-Weg, in dem 2 Radfahrer schon Probleme im Begegnungsverkehr haben, und, so Geschichtenerzählerin Göppel, trotzdem ein Auto das Durchkommen probiert hatte, tippelt das mobile Theater in die Bahnhofstraße ans Förster-Mayr-Haus gegenüber vom Rathaus. Das Haus, das heute noch aussieht wie eine Kulisse aus Ludwig Thomas Lausbubengeschichten, wurde vom gleichen Architekten gebaut wie die gegenüberliegende Villa Fiori, die einem aus dem Trentin eingewanderten Unternehmer gehörte.

Das Försterhaus, so erzählt der zünftig gewandete „Förster“ Reinhard Förster, habe deshalb viele verrückte Fensterformate, weil der Schreinermeister Mayr aus Drößling halt noch ein paar übriggebliebene Fenster verwerten musste. Anfangs diente das Haus als Gendarmenstation und später als Polizeirevier. 1950 zog der Förster Mayr ein, seines Zeichens Vorsitzender der Privatwaldbesitzer. Der hing gerne mal eine geschossene Wildsau an einem Apfelbaum auf – sehr zum Schrecken eines Spätheimkehrers, der in seinem „Suri“ ein Gespenst vermutete.
Ein Kapitel wie aus einer bsuffna Wirtshausgschicht ist auch die Entstehung des Rathauses. Die Villa Fiori stand zum Verkauf, und der Bürgermeister wollte endlich standesgemäß residieren. Aber der sparsame Gemeinderat bockte, bockte, bockte, bockte viermal, bis bei der fünften Abstimmung Stimmengleichheit herrschte. Da half die frühere Gemeindeordnung: Weil der Bürgermeister bei Stimmengleichheit eine Doppelstimme hatte, wurde aus der Villa ein Rathaus.
Wo jetzt die AOK in der Bahnhofstraße residiert, wohnte früher der Pfarrer, und seine Köchin hieß Ida. Brigitte Stabbauer verkörpert in ihrem historischen Gwand die gute Seele des Pfarrhauses wunderbar. Das Haus war umschlossen von einem herrlichen Pfarrgarten, den die Ministranten plündern durften.
Eine herrliche Geschichte weiß auch Uli Nett in seiner Eigenschaft als Volksbankdirektor zu erzählen: Als die Bank, damals noch ein Groschengrab mit Tresor im Keller, umzog in ein neues Gebäude, brachte der Volksbankleiter Belzner das Geld mit einem Leiterwagen ins neue Haus. Der Transport gelang, ohne dass die Gendarmen eingreifen mussten.

In der Bahnhofstraße war auch die Bäckerei Kößler bis 1965 eine Institution für die Ernährung der Einwohner und die Verbreitung des Dorfklatsches. 1954 erlebte sie eine televisionäre Sternstunde: Aus der Backstube musste fast alles für viele Stühle weichen. In der Mitte stand ein Fernsehgerät (vielleicht das erste in Herrsching), und über den Bildschirm flimmerte das WM-Finale von Bern. Vermutlich das erste Public Viewing am ganzen Ammersee. In der Nachbarschaft betrieb Oskar Welte das legendäre Gasradl, das als Disco unschätzbare Dienste bei der Heiratsanbahnung leistete.
Die Schmiede in der Nachbarschaft, in der ab 1914 der Schmied Paul Wachinger den Hammer schwang, hatte andere Kundschaft: Pferde und Ochsen bekamen ihr Schuhzeug, und dazwischen formte Wachinger sogar Wagenräder. Aber er konnte auch filigrane Stücke machen oder heilen: Fahrräder, Mopeds, Autos und sogar Motoren für die Boote. Und sein Fundus an Ersatzteilen war legendär. Vor dem Haus stand eine handbetriebene Zapfsäule, um die neue Mobilität in Gang zu halten. Erst 1953 verglomm die Esse endgültig.
Hier also die maskuline Kraft der Hände und Arme, daneben ein feinsinniger Künstler mit filigraner Technik: Wilhelm Krieger, ein ehemaliger Dekorationsmaler aus Bremen, wohnte mit seiner Frau Emilie Butters-Krieger neben der Schmiede. Sie arbeitete neben ihrer künstlerischen Tätigkeit in der keramischen Fabrik in der Keramikstraße, er wurde berühmt für seine wissenschaftlich genauen Tiermodelle von Rehen, Eulen und Adlern. 1927 verlieh ihm das Bayerische Staatsministerium sogar einen Professorentitel ehrenhalber. Noch heute sind seine Schöpfungen Studienobjekte an Universitäten.

Das Wohnhaus bekam eine zweite Karriere als sogenannte Kriegerschule, die Kinder aus wohlhabenden Familien auf weiterführende Schulen vorbereitete. Mit dieser Schule waren Namen wie Emilie Butters-Krieger, Luise Krieger, Pielmeier und Frau Dr. Uhlenbusch verbunden. 2 junge Lehrerinnen wollten diese Keimzelle individuellen Lernens weiterführen, aber die weißen weisen Herren vom Kultusministerium entzogen die Lehrerlaubnis – es war für bayerische Verhältnisse zuviel Nonkonformismus. Hanni Göppel hatte noch eine Pointe zu diesen herrlichen Geschichten – auch sie besuchte diese Privatschule. Die Schüler-Darstellerinnen Sarah Maier und Magdalena Römmelt plauderten auf dem Gehweg aus „ihrem“ Schulalltag.
Gegenüber, im Hause Neubauer, residierte früher der Schuhmacher, dann wurde ein Handarbeitsladen draus, und später zog der Bioladen Kraut und Rüben ein. An diesem Haus lassen sich auch die sozialen und ökonomischen Entwicklungen der Gesellschaft ableiten.
Neubauer war auch der Vorsitzende des Sparvereins Fidelio, bei dem man monatlich einen Sparbetrag einzahlen konnte, den man an Weihnachten mit Zinsen wieder bekam. Später wurde der Verein von der Volksbank übernommen.
Szenenwechsel: Vor dem Bahnhof hörte man früher das monotone Geräusch der Strickmaschinen, die Familie Grafwallner fertigte hier Stoffe, und praktischerweise verkaufte sie die Kurzwaren, Nachthemden, Unterwäsche, Bademoden und Trachten auch gleich im eigenen Laden.
Wer sich in München nicht als Landpomeranze der Lächerlichkeit preisgeben wollte, der konnte sich also am Bahnhof vor der Zugfahrt chic einkleiden. So wie die Damen von Welt auch in Herrsching mit der Mode gingen, so ließ sich auch die Reichsbahn nicht lumpen. Der „Bahnbetriebsleiter“, dargestellt von Dieter Feicht, erzählte, dass sich die Bahn schon 1925 auf der Strecke an den Ammersee das Rauchen abgewöhnt hatte und elektrifiziert wurde. Zum fünfzigjährigen und hundertjährigen Bestehen der Ammerseebahn gab’s jeweils rauschende Feste in Herrsching. Nicht überliefert ist, ob die berühmte Wetterfahne auf dem Dach des Bahnhofs noch einmal gehisst wurde. Sie zeigte nicht nur schönes Wetter an, sondern verkündete auch Sonderzug-Einsätze. Und die, versicherte der „Bahnbetriebsleiter“, waren pünktlich.
Idee, Aufführung und schauspielerische Leistung des Bauerntheaters ernteten viel Beifall und ein sattes Trinkgeld in die Vereinskasse. Das war einfach „mangnifique“, wie man früher gesagt hätte. In einem englischen Städtchen können sich für solche Gelegenheiten auch die Besucher historisch einkleiden, das wäre doch eine Anregung fürs nächste Jahr.
Die nächsten Führungen: 25. Juli, 1. August, 8. August, 15. August, Beginn jeweils um 19 Uhr an der Brücke Kienbachstraße- Fischergasse, nur bei trockenem Wetter.