Ist der See einfach zu schön? Lässt er keine Empörung zu? fragt die Exil-Herrschingerin Christl Voit. Foto: Gerd Kloos

„Dann zieht doch weg“

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Das Buch des Philosophen Björn Vedder „Das Befinden auf dem Lande“, das sich auch mit dem Leben in Herrsching beschäftigt, erregt die Gemüter weiter. Der Landschaftsingenieur Konrad Herz (Migrationshintergrund Ruhrpott) widmete dem Neu-Herrschinger Vedder auf herrsching.online ein paar unfreundliche Worte. Dann kam die Ärztin Dr. Regine Böckelmann zu Wort, die ebenfalls heftig widersprach. Jetzt meldet sich, sozusagen aus dem Off, die ehemalige Studiendirektorin Christl Voit, die einige Thesen von Vedder versteht, manche verteidigt und vieles mit Beweisen unterfüttert. Voit hatte im Helferkreis Asyl und beim Runden Tisch Wohnen mitgearbeitet. Und sie war Mitbegründerin der Bürgerinitiative Pro Natur. Inzwischen wohnt sie mit ihrem Mann wieder in München.

Voits Thesen:

• Permanenter Zufluss „fremden“ Lebens führte in Herrsching zu einer  Abschottung und Verteidigung eines tradierten Lebensstils

• Familiendynastien spiegeln das alte Leben Herrschings

• Abweichende Thesen haben Störenfried-Charakter

Christl Voit

Der in Herrsching lebende Autor und Philosoph Björn Vedder hat in seinem Werk „Das Befinden auf dem Lande“ auch einige Breitseiten gegen seinen derzeitigen Wohnort ausgeteilt. Manche seiner Thesen kann ich gut nachvollziehen, da mir das Sich- Abarbeiten an Herrsching nicht unbekannt ist. Allerdings verorte ich  Herrsching nicht auf dem „Land“. Es ist weder siedlungsgeografisch noch soziologisch ein Dorf, sondern ein Ort, der sich im rural-urbanen Übergang befindet. Es gibt kaum bäuerliche Strukturen, Reste des noch vorhandenen bodenständigen Denkens prallen auf das der meist vermögenden Neuzuzügler , die allerdings weitgehend nur Zaungäste beim gewachsenen Dorfleben sind ( mit Ausnahme der sog. Prominenten, die geschickt in Herrschings offizielle Dramaturgie „eingebaut“ werden.)

Die einstige Homogenität ist also bedroht. Dieser permanente Zufluss „fremden“ Lebens führte in Herrsching wohl zu einer gewissen  Abschottung und Verteidigung eines Lebensstils, der die „Altherrschinger“ kennzeichnet. Dieser Begriff wird von „den“ Herrschingern, auf die es ankommt, wie ein  Gütesiegel vor sich hergetragen und dient als Abgrenzung zu den sogenannten „Neuherrschingern.

Gleich als wir nach Herrsching zogen, taten manche Altherrschinger im Umfeld alles, um uns, echt nett gemeint,in einer Art Crashkurs zu vermitteln, „how to behave properly“. Es kristallisierte sich eine Art Dreifaltigkeit an Wichtigkeit heraus, der man zu huldigen hatte:  Die Feuerwehr- unbedingt als eine Art Initiationsritus ist eine Spende durch den Neubürger ratsam (ist es übrigens auch), der Bauhof (oberessenziell) sowie ganz oben natürlich die Gemeindespitze mit dem Bürgermeister, der schon weiß, was er tut. Als Gipfel der Glückseligkeit, gleichbedeutend mit der Aufnahme in den Herrschinger Olymp, wurde mir die Teilnahme am Herrschinger Jahresempfang  geschildert, aber nur, wenn man ganz „brav“ war – so hieß es wirklich. „Brav sein“, das heißt übrigens auch, nicht zu sehr in Herrschings Vergangenheit (und auch nicht der Gegenwart) zu rühren.

Mit derlei Basiswissen ausgestattet, stürzte ich mich ins politische Leben Herrschings. Als Ehrenamtlerin kümmerte ich michzum Beispiel im Asylhelferkreis um die Spezies Mensch, die in der Wahrnehmung vieler Einheimischer nicht einmal Neuherrschinger, sondern schlichtweg  nur Nichtherrschinger sind, die Geflüchteten. Sie durften zwar kommen, aber man hatte den Anwohnern des Containerdorfs in der Goethestraße auch versprochen, dass die bald wieder weg sein würden.

Zum Glück sind sie noch da, es gab eine Mehrheit im Gemeinderat für die Laufzeitverlängerung der Container – ob man erkannt hat, was für ein Gewinn für Herrschings homöopathischdosierte Diversität sie sind? Der kleine Spalt zur Tür in die tatsächlich existierende Welt außerhalb Herrschings ist gleichzeitig auch der Realitätscheck für verzogene  Kids im Landkreis.

Zeige dich nicht öffentlich mit den falschen Leuten

Die qua Geburt konstituierten Altherrschinger prägen auch mit wenigen Ausnahmen nach wie vor den Gemeinderat.  Die Zusammensetzung  mit „Familiendynastien“,  alteingesessenen Handwerkern und Geschäftsleuten, spiegelt das alte Herrsching eher als das neue Herrsching. Gut zu sehen war das bei der letzten Sitzung, als sich kaum ein Gemeinderat mit den Demonstranten vor dem Rathaus zeigen wollte, obwohl  von denen genau das angeprangert wurde, worunter speziell auch zwei Fraktionen im Gemeinderat zu leiden hatten. Merke: Zeige dich nicht öffentlich mit den falschen Leuten – ein weiteres Herrschinger Gesetz.

Die gläserne Wand zum Reich der Altherrschinger ist ziemlich undurchlässig -und wenn man es gar wagt, an deren Vorhaben Kritik zu üben – zum Beispiel an der geplanten Bahnhofsvorplatzgestaltung, am Kienbach-Ausbau, an Baumfällungen – dann wird einem schon mal  empfohlen, doch einfach wegzuziehen. Abweichende Ideen, wie fundiert auch immer sie sein mögen, werden nicht goutiert, sie haben Störenfriedcharakter.

Leider kein neugieriger, offener Diskurs – nirgends… Stattdessen unerschütterliche Selbstzufriedenheit.

Besonders jüngere, gebildete Frauen haben es nicht leicht

Vedders Begriff der „Beschämung“ habe ich nach dem Besuch vieler Gemeinderatssitzungen sofort intuitiv verstanden. Besonders jüngere, gebildete Frauen (aber nicht nur die) haben es nicht leicht, erwachsene Gemeinderäte holen sich öffentliche Rüffel ab, wenn sie aus der geplanten Dramaturgie auszusteigen versuchen und gar wagen zu widersprechen.

Jeder in Herrsching kennt die roten Linien  – und selbst die Aufmüpfigeren in Zirkeln außerhalb der etablierten Machtstrukturen überlegen vorher in stundenlangen Sitzungen , wie sie ihr  noch so berechtigtes Anliegen vertreten können gemäß dem ungeschriebenen  Herrsching-Kodex, dass doch im Grunde alle an demselben Strang zögen und man bitte, bitte nur klitzekleine Änderungen möchte. Nur niemand Wichtigem auf die Füße treten. Das kann echt anstrengend sein.

Empörung darüber? Fehlanzeige! So gab es auch keinen hörbaren Aufschrei der etwa 400 Unterzeichner eines Bürgerantrags zur Einführung einer Baumschutzverordnung, als diese kürzlich auf unwürdige Weise im Gemeinderat begraben wurde. Gerademal rund 30 Demonstrierende – das ist fast eine unwillentliche Bestätigung des Gemeindekurses.  Ist es Resignation, ist es Dankbarkeit für kleine Brosamen von oben, oder ist es schlicht nur eine Strategie der Ärgervermeidung?

Oder ist der Ammersee einfach zu schön? Lässt er keine Empörung zu?

Vedder spricht in einem Interview mit der SZ von dörflichen Werten, ich würde eher den Begriff „Normen“ verwenden. Dieses Selbstverständnis legitimiert die Altherrschinger zu einer gewissen Übergriffigkeit und dazu, Vorschriften zu machen, wie man zu leben hat und wie die Dinge zu laufen haben. Ein Beispiel: Während der Bauphase unseres Hauses entwickelte sich sowas wie „Gruseltourismus“ inklusive ungefragter Rückmeldungen, als wir mitten im Dorfkern keine Satteldachidylle hinstellten.

Das mantrartige Halleluja auf Herrschings Schönheit im Status Quo, Ammerseepullis und Aufkleber, Lederhosen-Trikots für  Herrschings Volleys sind der Ausdruck dieses identitätsstiftenden „Mia san Mia“. Assimilation oder eben Draußensein – das ist die verbleibende Alternative.

Man will zum Beispiel auch keine neuen Sozialwohnungen bauen. Wer weiß, wer da kommt.

Der Vorteil einer so weitgehend geschlossenen Alt-Gesellschaft wie der Herrschings ist, dass sich die etwas anderen Herrschinger*innen schnell finden und aus der gemeinsamen Sache sich Freundschaften ergeben, die wir natürlich jetzt schon vermissen, genauso wie unsere lieb gewonnene Nachbarschaft.

Denn, anders als Vedder, haben wir uns zu einem Wegzug nach München entschieden, voller Sehsucht nach einem unverstellten Diskurs jenseits des natürlich unsichtbaren, aber sowas von existenten „Herrschinger Meinungskorridors“.

Die Schönheit der Landschaft konnte auf die Dauer nicht entschädigen.

Deshalb ein nachdenkliches „ Ciao Herrsching“, mach’s gut. Man sieht sich sicher hin und wieder .

3 Comments

  1. Liebe Christel Voit, danke, dass du zum Thema lebenswertem Wohnen in Herrsching einige eigene Erfahrungen beschrieben hast. Ob Herrsching, aber auch Breitbrunn, als gute Beispiele für das Leben auf dem Lande generelle Aussagen zulassen, bezweifle ich. Es ist schon eine spezielle Struktur der Einwohner in der Gemeinde. Es wohnen viele sehr vermögende, sehr erfolgreiche, sehr gut gebildete Menschen hier. Auch politisch gesehen gibt es immer noch keine AFD Gemeinderäte (hoffentlich bleibt das so! ) und der gewählte Buergermeister agiert parteifrei, als „Buergermeister fuer alle“. Dass viele Menschen die Landschaft am Ammersee als besonders schön empfinden, das treibt die Immobilienpreise in die Höhe. Die Kriterien Seeblick und Alpenblick, blühende Wiesen, das alles zusammen bekommt der Mensch nur hier. Da kann man in den Familien der Einheimischen (seit Generationen ansässigen Bürger), schon stolz sein. Ich hoffe, dass diese privilegierte Kultur-und Naturlandschaft nicht durch eine städtische Bebauung zersiedelt bzw. zerstört wird. Wer aber wegzieht, sollte dies nicht wegen egoistischen und unsozialen Nachbarn machen müssen, sondern nur, weil er wie ich, an einer sehr lauten Ortsdurchfahrt mit Auspuffgasen im Vorgarten garteln muss. Noch kaempfe ich für Zebrastreifen und Tempolimit in meinem „diesseitigen Paradies“ Breitbrunn.

    • Liebe Heidi Körner, das Etikett „Bürgermeister für alle“, das sich Herr Schiller einst zugelegt hat, passt leider gar nicht mehr.
      Immer mehr tendiert er zu seiner ehemaligen Partei, der CSU, und dementsprechend handelt er auch.
      Ein bisserl enttäuscht bin ich da schon.

      • Hallo Regine, ja, so ist das mit den Wahlslogans. Für alle Bürger da zu sein war schon ein ambitioniertes Ziel. Vielleicht führt Herr Schiller den Wahlkampf in zwei Jahren auch ganz anders und dann wieder mit einer bestimmten Partei.

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