Lauter Ausgegrenzte? Biergartenszene am Seehof

Fühlen Sie sich ausgegrenzt in Herrsching? Oder grenzen Sie etwa aus?

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Der Herrschinger Buchautor Björn Vedder rechnet mit seinen Mitbürgern ab: Ausgrenzung, soziale Kontrolle, Sippenhaft habe er in Herrsching erlebt. Konrad Herz, der aus dem Ruhrgebiet stammt, setzt sich mit den Thesen des Philosophen auseinander///

„Ich hadere mit der Mentalität” (der Herrschinger), vertraute der Buchautor und Philosoph Björn Vedder, 48,  der Süddeutschen Zeitung an. Mit dem Buch „Reicher Pöbel” war der Wahl-Herrschinger schon auf Krawall gebürstet, mit seinem Essay „Das Befinden auf dem Lande” hat der See-Anwohner eine literarische Arschbombe ins Wasser gezimmert – er will uns Herrschinger wohl mal richtig nass machen. In loser Folge fragt herrsching.online Bewohner von Herrsching – Zugezogene und autochtone Bevölkerung – was sie von Vedders Thesen halten. In dieser Folge macht sich der gebürtige Gelsenkirchener und Gerne-Herrschinger Konrad Herz Gedanken zu Vedders Buch. Herz hat Vedders Buch übrigens gelesen.

Hier zuerst Vedders Kernsätze, die wir aus dem Interview in der Süddeutschen Zeitung entnommen haben:

„Mechanismen der Beschämung bis hin zur Sippenhaft”

• Da ist eben diese Art von Gemeinschaft, von enger sozialer Kontrolle und auch von Mechanismen der Ausgrenzung und Beschämung bis hin zu Sippenhaft. Die sozialen Herrschaftsstrukturen, die ich als Kind in Höxter kennengelernt habe, sind hier genauso.

„Die Gespräche sind entsprechend eindimensional”

• .. .das ist eine Mischung aus wohlhabenden Familien und denen, die davon profitieren. Die Aspekte mit denen man sich behauptet, sind andere als in der Stadt., die Gespräche entsprechend eindimensional. Wer keinen Kleinbus fährt, dem ist seine Familie das nicht wert …Diese Gemeinheit, von der ich schreibe, ist ein Produkt dieses soziale Drucks.

„Wer diese Werte nicht hat, wird ausgegrenzt”

• Wer diese Werte nicht hat, wird ausgegrenzt. Abweichungen werden moralisch abgewertet.

„So wie ihr das macht…”

• Eltern (mit anderer Rollenverteilung; Red) soll klargemacht werden: So wie ihr das macht, das ist moralisch schlecht.

„Ammersee-Pullover: Das ist doch kurios…”

• Über Ammersee-Pullover: Das ist doch kurios, dass sich die Identifikation mit der Gemeinschaft in solchen Devotionalien äußert. Das ist Christenfisch am Kofferraum.

„Immer ähnlicher…”

• Stadt und Land werden sich immer ähnlicher.

herrsching.online: Herr Herz, der NDR unterstellt Vedder in einem Interview-Vorspann, Vedder behaupte, Landleben mache reaktionär und hole das Schlechteste aus dem Menschen heraus. Sind Sie nach einem Jahrzehnt am See ein schlechterer Mensch als vorher?

Herz: Meine Wahrnehmung ist nur ein klitzekleiner individueller Einblick nach zwölf Jahren in Herrsching. Aber Herrn Vedders steile These, dass die Menschen hier die Freiheit hassen, weil sie sich mit der „…modernen Unübersichtlichkeit nicht zurechtfinden…“ und damit deren Rückkehr in Gesellschaften, die von Moral und Werten bestimmt sind, begründet? Vor allem: Welche Moral? Welche Werte? Wenn ich mit „meinen“ Menschen am See ein Glas Wein im Kies trinken möchte oder hinter Ellwang morgens den Sonnenaufgang in Ruhe genieße, verspüre ich weder Zwang noch Kontrolle. Das Dorf, von dem Herr Vedder immer fabuliert, gibt es vielleicht in seinem Dunstkreis. Der von Herrn Vedder häufig zitierte Kant definierte Freiheit als Unabhängigkeit von Kausalität, also unabhängig von Ursache und Wirkung. Herr Vedder bezeichnet sich in seinem Buch als liberal. Stellt er die Freiheiten des einzelnen auch in seinen Vordergrund? Als Ausglich zu den flott gelesenen 145 Seiten von Herrn Vedder empfehle ich „Erzählende Affen“ und „Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt.“

herrsching.online: In dem SZ-Interview kommt ein Kleinbus vor, der nach Vedders Verständnis wohl so eine Art artgerechtes Auto für Herrschinger Wohlstandsfamilien ist. Wollen wir da einsteigen – in Bus und Thema?

Herz: Naja … Herr Vedder hat sich ja ein Hintertürchen offen gelassen, indem er in seinem Buch von sich behauptet, er habe Humor. Vielleicht ist die Kleinbus-Umzugswagen-Nummer der Versuch, dass seine Kinder zum nächsten sozial kontrollierten Geburtstag doch eingeladen werden? Aus Herrsching wegziehen kann ich, wenn ich wollte, morgen mit der S-Bahn. Als Herr Vedder aus München – was nun auch nicht die verslumte Megacity der Republik ist – in den Landkreis mit der höchsten Kaufkraft der Republik zog, hat er bestimmt keine Massen an Freaks erwartet, die bekifft in ihrer klapprigen Ente am See herumkutschieren. Klar kommt da Status. Alles andere ist doch naive Kinderkacke.

herrsching.online: „Sag mal, ich sehe dich nie mit deiner Mutter, nicht auf dem Spielplatz, beim Einkaufen oder beim Turnen. Hat deine Mutter überhaupt kein Interesse an dir?”, soll eine Frau Vedders Kind gefragt haben. Das sei, so Vedder, das Prinzip der Sippenhaft. Eine steile These?

Herz: Zunächst glaube ich Herrn Vedder, dass sich die Situation so zugetragen hat. Allerdings kapiere ich seinen Twist nicht, dass daraus die Normung wird, alle Mütter Herrschings, die ihre Kinder zum Turnen bringen, seien zufrieden damit, dass der Gatte für das Einkommen sorgt und die Frau Nestpflege betreibt? Frag sie doch mal, ob sie das auf Dauer cool findet. Ich kenne halt keine Frau in Herrsching, die das Prinzip lebt. Ich würde die Frage sowieso nicht philosophisch beantworten, sondern empirisch. Vielleicht beobachte ich im bevorstehenden Sommer alle Herrschinger Frauen beim Kinderturnen. Fragen Sie mich dann noch einmal.  Vielleicht ist das Rollenklischee Herrn Vedders Kindheitsprägung aus dem Kaff im Weserbergland? Oder sein Humor?

herrsching.online: Thema Ammersee-Pulli. Ein Kleidungsstück wird zum Kronzeugen einer schrägen Identität…

Herz: Wie schräg muss Herr Vedder drauf sein, für so pseudoexponierte Äußerlichkeiten überhaupt einen Blick zu haben? Salopp formuliert, ist es mir komplett Latte, wer welchen Pulli trägt. Da muss es irgendwo in Herrsching eine Parallelgesellschaft geben, die sich zu Pullover-Flashmobs im Supermarkt trifft? Habe ich noch nicht erlebt. Möglicherweise wäre  für Herrn Vedders Gemeinschaft besser, den Menschen in die Augen zu sehen, statt auf die Beflockung? Die Auswertung seiner Beobachtung wird so prinzipiell formuliert, dass es glaubhaft erscheinen soll. In dem Buch wir nahezu jede seiner persönlichen Behauptungen in einem Schwall an Zitaten vernebelt. Wird deswegen nicht repräsentativer.

herrsching.online: Nun noch die alles entscheidende Frage: Fühlen Sie sich kontrolliert in Herrsching, Herr Herz?

Herz: Bei dem Duktus auf den 145 Seiten schwankte ich zwischen „Klugscheißer“ und „pseudoverkopfter Spießer“. Weil er in seiner Kindheit in einem Kaff gelebt hat, arbeitet er sich jetzt mit Reichweite an seinen Lebenserfahrungen ab. Ist legitim. Sei ihm gegönnt. Was ich auf den 145 Seiten nicht gefunden habe, ist die Validität seiner Beobachtungen. Zur sozialen Kontrolle gehören zwei: Kontrolleur und Kontrollierter. Außer dass die Polizei mich (zu Recht) kontrolliert hat, lebe ich seit der Ankunft in einem persönlichen Umfeld, in dem soziale Intervention, Überwachung, Kontrolle und so weiter für mich keinen Einfluss hat. Ich weiß natürlich nicht, unter welchem Druck Herr Vedder dazugehören muss oder will – wozu auch immer?

1 Comment

  1. Ich warte mal gespannt auf die “Corona Edition” von Hrn. Vedder. In dieser Zeit ist auch mir so manches sehr gruselig und total(e)litär erschienen.

    Aktuell entspannen sich die Leute wieder ein bisschen und das Kontrollbedürfnis nimmt ab. Ein Social Branding durch Pullis und Aufkleber ersetzt ein bisschen die Rolle, die ein FC Bayern oder hier auch die Handballer und Volleyballer einnehmen sollten. Laissz-faire, leben und leben lassen. Wer das nicht selber lebt, wird sich weder hier noch in Castrop-Rauxel wohlfühlen.

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