Die Dreifaltigkeit bayerischer Identität: F.J.S., Ludwig Zwei und christliche Symbole. So stellt sich ein Norddeutscher wohl den Paradebayern vor. Der Fotograf hat die Anstecker an der Brust eines Herrschingers entdeckt, der aus München zugezogen ist – so wie Buchautor Björn Vedder.

„Falsch verstandene Ländlichkeit gibt es in Herrsching weniger als anderswo in Oberbayern”

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Macht Landleben reaktionär und holt das Schlechteste aus den Menschen heraus, kontrolliert eine „Dorfgemeinschaft” Mitbürger bis hin zur Ausgrenzung? Das Buch des Herrschinger Autors Björn Vedder „Das Leben auf dem Lande” schlug in der Seegemeinde auf wie ein frischer Kuhfladen auf die Dorfstraße. Der Wahlherrschinger Konrad Herz hatte sich auf herrsching.online mit den Thesen des Buchautors auseinandergesetzt („Was ich vermisse, ist die Validität seiner Beobachtungen”).

Dr. Regine Böckelmann

In dieser Folge unserer Serie meldet sich eine Herrschingerin zu Wort, die seit Jahrzehnten mit ihrer Familie am See lebt. Die Vedderschen Behauptungen haben ihren Lokalpatriotismus geweckt. Die Ärztin Dr. Regine Böckelmann, die in Andechs 14 Jahre lang in einer Gemeinschaftspraxis gearbeitet hatte, bescheinigte Vedder in einer Buchrezension auf Amazon „eine sehr subjektive, teilweise überheblich wirkende Beschreibung”. Im Interview mit herrsching.online legt Dr. Böckelmann nach:

herrsching.online: Sie sind mit Ihrer Familie 1973 nach Herrsching gekommen. Haben Sie jemals Ausgrenzung, soziale Kontrolle oder gar Herrschaftstrukturen erlebt?

Regine Böckelmann: Zunächst mal bedaure ich es sehr, dass Herr Vedder offenbar in Herrsching nicht richtig heimisch werden konnte, zumindest bisher. Das Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens kenne ich eher aus unserer Zeit in Pähl, das damals noch ein richtiges Bauerndorf war, mit einer aus dem Boden gestampften Neubau-Siedlung am Ortsrand, wo auch wir untergekommen waren. Wir waren halt dort die „neig´schmeckten“, die nicht richtig dazugehörten und zu allem Überfluss nicht mal katholisch waren.

In Herrsching haben wir über den Kindergarten und auch in der Nachbarschaft sehr schnell Anschluss gefunden. Klar, dieser Kindergarten, der heutige „Kunterbunt“, der damals noch unter  dem sperrigen Namen „Förder- und Vorschulkindergarten“ bekannt war, war schon ein wenig „alternativ“ und vom Gedankengut der antiautoritären Erziehung beeinflusst. Eher konservativ eingestellte Eltern brachten ihre Kinder lieber in den Gemeinde-Kindergarten. Heute haben sich die Unterschiede zwischen den verschiedenen Kindergärten wohl erfreulicherweise ausgeglichen. Mit den Eltern, die wir in der für uns maßgeblichen Zeit kennengelernt haben, gibt es auch heute  noch Gemeinsamkeiten in verschiedenen anderen Kontexten. Gegenseitige soziale Kontrolle in Herrsching ist mir fremd. Zum Beispiel kann ich mir nicht vorstellen, dass sich jemals jemand dafür interessiert hat, welches Auto ich fahre. Und selbst wenn, hätte es mir egal sein können. So etwas kam eher in Andechs vor, wo man sich anscheinend gelegentlich gefragt hat, warum die Frau Doktor eigentlich mit einem so wenig repräsentativen Auto herumfährt.

herrsching.online: Herr Vedder spricht gerne über die „Werte“ auf dem Land, und da er in Herrsching wohnt, meint er wohl auch die Seegemeinde. Aber welche gemeinsamen Werte sollen die Herrschinger denn miteinander teilen? Gemeinsame Werte findet man bei der Feuerwehr, bei Parteien, im Fußball und Handball. Aber welche Werte soll ich denn mit meinem Nachbarn teilen, außer dass die Semmeln beim Bäcker I. besser sind als beim Bäcker K?

Regine Böckelmann: Es ist sicher so, dass auch in Herrsching verschiedene Bubbles existieren, die, was ihre Werte anbetrifft, unterschiedliche Prioritäten haben, und die miteinander nicht viel anfangen können. Ich halte das für einen Ort von der Größe Herrschings für normal. Im Großen und Ganzen toleriert man aber einander, auch wenn es über verschiedene Themen grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten gibt.

Es gibt aber auch Schnittmengen zwischen den verschiedenen Kreisen. Als vorbildlich in dieser Hinsicht betrachte ich den verstorbenen Gemeinderat Johann Kaindl, der sich neben seiner Tätigkeit für die CSU auch für den Naturschutz, für die Indienhilfe und für die Archäologie Herrschings engagierte. Trotz aller Unterschiedlichkeiten eint wohl fast alle das Gefühl, dass es nicht nur der See ist, der Herrsching lebenswert macht.

herrsching.online: Wenn man erlebt hat, wie gespalten der Gemeinderat in den beiden letzten Jahren war, fällt es schwer, ein gemeinsames Lebensgefühl am Ammersee auszumachen. Ist genau das ein Indiz dafür, dass Herrsching politisch und gesellschaftlich so heterogen geworden ist?

Regine Böckelmann: Eigentlich ist es ja ein gutes Zeichen, dass Herrsching politisch und gesellschaftlich so heterogen geworden ist. Ich erinnere mich gut an die bleiernen Zeiten im Gemeinderat, als die CSU noch die absolute Mehrheit hatte. Jetzt ist die Opposition viel stärker und auch frecher (fordernder) geworden, was naturgemäß zu mehr – teilweise auch unerfreulichen – Auseinandersetzungen führt.  Ich persönlich freue mich über den hohen Anteil von Grünen-Wähler:innen und dementsprechend auch Gemeinderatsvertreter:innen in unserer Gemeinde. Er war bei uns, verglichen mit anderen Gegenden in Bayern, immer relativ hoch. Dazu eine stark aufgestellte BGH, das lässt die Hoffnung auf ein – im „grünen“ Sinn – zukunftsfähiges Herrsching nicht ganz schwinden.

herrsching.online: Was muss man als Neu-Herrschinger anstellen, damit man dazugehört? Zur Feuerwehr gehen, in eine Partei eintreten, sich in der Kirche sehen lassen oder einem Segelclub beitreten?

Regine Böckelmann: Ich denke, wenn man neu nach Herrsching gezogen ist und Anschluss sucht, ist die Erfolgsquote dafür am besten, wenn man einfach seinen Neigungen nachgeht. Ich meine, Möglichkeiten dafür gibt es für jeden, sei es in sportlicher, kultureller oder sozialer Hinsicht.

herrsching.online: Darf man Herrsching, 60 S-Bahn-Minuten vom Marienplatz entfernt, überhaupt als ländlich oder provinziell betrachten? Ist die Seegemeinde nicht so ein Hybrid-Ding aus großstädtischer Lebensweise und ländlicher Attitüde? Ein wunderbares Beispiel ist ein Gemeinderat, der ein Franz-Josef-Bild am Lodenjanker trägt, aber ideologisch eigentlich anders unterwegs ist. 

Regine Böckelmann: Dass Herrn Vedders Buch den Eindruck erweckt, als würden wir, vom See mal abgesehen, in der hintersten Provinz leben, hat mich am allermeisten überrascht und meinen Lokalpatriotismus herausgefordert. Unter „Ländlichkeit“ kann man ja vieles verstehen, es ist aber tatsächlich nicht allzu viel davon zu merken in Herrsching, weder in der einen, noch in der anderen Richtung. Viele fahren zur Arbeit nach München. Es gibt nur noch ganz wenige landwirtschaftliche Betriebe. Spezifisch für „Land“ ist wohl das Bauerntheater, eine durchaus erfreuliche Institution neben anderen Möglichkeiten, Kultur zu genießen. Auswüchse falsch verstandener Ländlichkeit gibt es hier deutlich weniger als an anderen Seen im Oberbayerischen. Zum Glück leben hier auch nicht so viele „Großkopferte“ wie am Starnberger See, zumindest fallen sie nicht so auf wie dort.

herrsching.online: Ach ja, beinahe hätten wirs vergessen: Wie gerne leben Sie in Herrsching?

Regine Böckelmann: Nach diesem Loblied auf Herrsching muss ich vielleicht gar nicht nochmal betonen, wie gerne ich hier lebe. Auch wenn ich mir manches anders wünschen würde: eine sensiblere Gestaltung des Ortsbildes, mehr Aufmerksamkeit für den Natur- und Klimaschutz, günstigere Mieten, und, und, und….Aber wer ist schon wunschlos glücklich?

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