Seit zehn Jahren hilft der Herrschinger Verein „Wir schaffen das“ Geflüchteten, die Klippen der deutschen Bürokratie zu umschiffen. Oder besser, nicht daran zu zerschellen. Aus Anlass des Jubiläums hat der Verein ein Positionspapier veröffentlicht, das die eigene Arbeit beschreibt, aber auch Kritik an mitunter unmenschlichen Abschiebepraktiken übt. herrsching.online veröffentlicht diesen Text ohne Kürzungen und Änderungen.
„Man stelle sich einmal vor: Deutschland ohne Migration! Es blitzt in der Steckdose, Kurzschluss, das Licht geht aus. Hilferuf beim Elektriker, Antwort: Zünden Sie Kerzen an, wegen Personalmangels können wir Ihnen leider nicht helfen. Oder: Versuchen Sie es doch selbst. Ähnlich beim Wasserrohrbruch oder Tiefkühl–Kollaps. Und: leider kalte Küche im Gaststättenbetrieb.
Und auch: was geschähe mit den dringenden Arzt- und OP-Terminen? Man erführe: Warten Sie, Zähne aufeinander beißen, wir melden uns, wenn was frei wird. Und erst recht in der Pflege. Hilfe-Anruf: Ich kann nicht mehr alleine auf die Toilette gehen und würde auch so gerne mal wieder aus meiner Wohnung herauskommen, was Grünes sehen. Antwort: Leider können wir Ihnen nicht helfen, keine Kapazitäten. Da kann Ihnen doch sicher Ihre Familie helfen. Ach, die sind alle berufstätig und haben Kinder? Tja, dann …
Sie würden uns fehlen
Sie würden uns schon sehr fehlen, die Geflüchteten und Immigranten. Aber nicht nur in der Organisation unseres Alltags. Der Kontakt mit Menschen aus anderen Kulturen bereichert unsere Weltsicht. Mit ihrer Warmherzigkeit, und Spontaneität, mit ihren Berichten von den Gefahren der Flucht, der großen Not zu Hause und der schmerzlichen Entbehrung von Heimat und Familie, relativieren sie unsere Selbstzufriedenheit im gesättigten Deutschland.
In der Herrschinger Begegnungsstätte „Café Blabla“ des Vereins „Wir schaffen das e.V.“ ist all dies seit zehn Jahren täglich erlebbar.
Eine fünffache Win-win-win-win-win- Situation
2015 kamen etwa 300 Geflüchtete nach Herrsching. Damals wurde viel von Willkommenskultur gesprochen. Wir haben das ernst genommen, Kontakt aufgenommen, ein Willkommensfest veranstaltet und regelmäßige Treffs organisiert. Seit zehn Jahren helfen wir den Geflüchteten, hier anzukommen und tragen dazu bei, dass es in Herrsching ruhig geblieben ist, dass sich keine größeren Konflikte zwischen der Bevölkerung und den geflüchteten Menschen entwickelt haben. Eine fünffache Win-win-win-win-win- Situation zwischen Geflüchteten, Einheimischen, Arbeitgebern, Ehrenamtlichen und dem Staat als Steuerempfänger.
Viele haben, trotz aller Schwierigkeiten, Arbeit gefunden. Zum Beispiele: Ein junger Afghane, der demnächst die Meisterschule für Parkettleger besucht. Ein anderer arbeitet seit acht Jahren bei einer Gartenbaufirma, die es ohne ihn vermutlich nicht mehr gäbe. Eine junge Frau aus Somalia wird zur zahnärztlichen Fachangestellten ausgebildet. Eine indische und eine afghanische Mutter machen die Prüfung zur Kinderpflegerin und arbeiten in der Herrschinger Kita. Zwei erwachsene Familienväter haben in der Berufsschule die Bank gedrückt und die Gesellenprüfung gemacht, der eine als Schreiner, der andere alsInstallateur.
Viele der Kinder, die wir anfangs im Breitwand-Kino betreut hatten, sind erwachsen geworden, haben eine Ausbildung abgeschlossen und bereichern nun unseren Alltag, nicht nur durch ihre Arbeit, sondern auch durch ihre soziale Einstellung gerade Kindern und älteren Menschen gegenüber. Stichwort: Respekt.
Natürlich gehört zu einem guten Gelingen der Integration auch, dass die Bevölkerung aufgeschlossen ist und sich die Neuankömmlinge hier angenommen fühlen. Dazu haben die vielen Betriebe beigetragen, die – nicht selten durch unsere Vermittlung – Geflüchteten Arbeits- und Ausbildungsplätze angeboten haben. Wenn man heute in Herrsching Bäckereien, Supermärkte, Arztpraxen, Krankenhäuser und Pflegeheime, Handwerksbetriebe, Hotels und Restaurants besucht, merkt man, dass es ohne die Zugewanderten nicht mehr geht.
Was uns bedrückt
Die derzeitige Situation, wo auf Teufel komm raus abgeschoben wird, wo versucht wird füralle Probleme, die es im Land gibt, einen Sündenbock zu finden: die Migration. In der Presse heißt es immer, es werden in erster Linie Straftäter abgeschoben. Wir wissen, dass dem nicht so ist. Es werden junge Leute aus der Ausbildung abgeschoben, es gehen Briefe an 18-jährige Mädchen, die bei ihrer Familie wohnen, sie sollen innerhalb einer Woche das Land verlassen. Das sind Mädchen, die noch nie auch nur einen Tag irgendwo alleine unterwegs waren. Für die deutschen Behörden sind sie volljährig, also können sie ausreisen. Hauptsache die Quote steigt.
Dabei leiden die Migranten genauso unter der Bahn, der Wohnungsnot, der Teuerung, der Unsicherheit durch Kriege in der Nachbarschaft. Warum suchen wir immer das Trennende anstatt das Verbindende?
Was uns freut
Seit einigen Jahren unterstützt uns die Gemeinde Herrsching mit finanziellen Mitteln und immer wieder finden sich auch private Spender und Stifter, ohne die unser Projekt nicht zu stemmen wäre.
Geflüchtete in Arbeit zu bringen, ist ein unglaublicher bürokratischer Aufwand
Dass mehr Herrschinger bereit sind, Geflüchtete oder überhaupt Menschen aus anderen Ländern kennen zu lernen, weil man erst dann merkt, wie man voneinander profitieren kann. Anstatt Menschen aus anderen Ländern abzuwerben, diejenigen, die schon hier sind und bereits Sprache und Kultur kennengelernt haben, schneller zur Ausbildung und zur Arbeitzuzulassen.
Wir möchten auch unbedingt darauf hinweisen, dass es in den ersten Jahren politisch leider verhindert wurde, dass die Geflüchteten in Arbeit oder Ausbildung kamen. Erst in der letzten Zeit wurde es einfacher, aber immer noch ist es ein unglaublicher bürokratischer Aufwand. Ein Arbeitgeber, der willens ist, einen Geflüchteten einzustellen, ihn aber wenigstens für einen Tag zur Probearbeit testen will, muss dafür den kompletten Antrag auf Arbeitserlaubnis stellen und dann mehrere Wochen warten. Wer tut sich das an, wenn er eigentlich dringend jemanden für seinen Betrieb braucht? Wir Helfer sind damit auf Dauer auch überfordert. Die Bürokratie hat schon einige das Handtuch schmeißen lassen.
Zum Glück ist der Helferkreis in Herrsching noch halbwegs intakt, nicht zuletzt dank unserer eigenen Räume, dem interkulturellen Treffpunkt Café Blabla. Durch den Einbau einer Zwischentür können wir inzwischen in drei kleinen Räumen gleichzeitig unsere Angebote zur Verfügung stellen. In erster Linie Deutschunterricht für Erwachsene, aber auch Hausaufgabenhilfe für Schüler und natürlich Hilfe in vielen behördlichen Angelegenheiten.
Zum Beispiel erfahren viele Geflüchtete erst von uns, dass man eine Steuererklärung abgibt und eventuell zu viel gezahlte Steuern zurückbekommt.
Unser Verein „Wir schaffen das e.V.“ ist Träger von zwei wichtigen Projekten:
1. raumgeben. Hier wird gezielt nach Wohnraum für Geflüchtete gesucht, Vermietern werden passende Personen vorgeschlagen. Die Wohnungen entsprechen vielleicht nicht den gängigen Vorstellungen, müssen teilweise selbst renoviert werden oder haben eine Befristung. Aber für eine Familie, die endlich aus einem Container ausziehen kann, ist das ein wichtiger Schritt, hier anzukommen.
2. Lebenswirklichkeit in Bayern, ein Integrationsprojekt für Frauen mit den Kursen: Leben und Arbeiten in Deutschland, Fit für den Alltag, Computerkurs, Fahrradkurs, Schwimmkurs und Werkraum.
Auch wenn nicht immer alles glatt und erfolgreich lief, auf eines können wir ein bisschen stolz sein: Das Blabla, Anlaufstelle, Kulturvermittler und Lernort für Zuwanderer oder schon Zugewanderte, war – dank des ehrenamtlichen Engagements einiger unermüdlicher und unerschrockener Helferinnen und Helfer – nahezu regelmäßig geöffnet, sei es an Feiertagen oder in den Ferien, auch in den Jahren der Pandemie. Und so soll es auch in Zukunft gerne bleiben.




Herzlichen Dank für diesen wichtigen Beitrag, dem ich einfach nur zustimmen möchte.
Mit Blick auf die Kommunalwahlen 2026 würde mich die Meinung der Kandidatin und des Kandidaten, Frau Casaretto und Herr Schiller, diesbezüglich interessieren.