Der Ministerpräsident hat es als eines der schönsten Gymnasien Bayerns bezeichnet und es gar mit einem Club Robinson verglichen: Am neuen Bildungstempel in Herrsching ist nicht nur die Architektur spektakulär, auch die modernen Lernformen haben mit althergebrachtem Pauken nicht mehr viel zu tun. Die kommende Direktorin Dr.Eva Weingandt verwendet im Gespräch mit herrsching.online Begriffe, die man von Lehrern eher selten hört: „Wir trainieren gezielt Wohlbefinden, denn es ist eine Grundlage von Leistung, erst recht von Spitzenleistung.“ Damit hat sie zwei Ziele fürs neue Gymnasium umrissen: „Positive Beziehungen“ zwischen allen Beteiligten und Lernen als „harte Arbeit“. Wer in Herrsching Abitur macht, soll bestens aufs Studium vorbereitet sein.
herrsching.online: Eine Schülerin wurde fürs SZ-Magazin zum Postergirl, weil sie mit einer Petition unangekündigte Prüfungen in der Schule verbieten lassen will. Für die SZ rüttelt sie an den Grundfesten des bayerischen Schulsystems. Sie, Frau Dr. Weingandt, hatten in der Info-Veranstaltung vor 700 Eltern begeisterten Applaus bekommen, als Sie versprachen, dass am Gymnasium in Herrsching alle Prüfungen angekündigt werden. Gehört es sich für eine Schule, die nach modernsten Methoden unterrichtet, dass man den Schülerinnen und Schülern den Stress von „überfallartigen“ Prüfungen erspart?
Weingandt: Leistungssituationen anzukündigen halte ich für eine sehr sinnvolle Sache, denn dadurch bekommen unsere Schülerinnen und Schüler explizit die Möglichkeit zu leisten. Durch individuelle Wahlmöglichkeiten, zum Beispiel Prüfungsform und Zeitpunkt, können eigene Stärken akzentuiert werden. Prüfungen sollen als sinnvolle Erfahrungen erlebt werden.
Unsere Lehrkräfte besprechen zu Schuljahresbeginn mit den Schülerinnen und Schülern, welche Arten von Leistungserhebungen in den einzelnen Fächern erhoben werden. Sie müssen klar definiert und transparent sein. Alle Formen sind dabei in den Gesetzen grundgelegt, an diese müssen sich auch die Lehrkräfte des Gymnasiums Herrsching halten.
„Die Entscheidung, ob es unangekündigte Leistungsnachweise gibt, obliegt der ersten Lehrerkonferenz“
Und übrigens: Ich habe beim Informationsabend versprochen, mich für die Abschaffung unangekündigter Leistungsnachweise am Gymnasium Herrsching einzusetzen. Die Entscheidung darüber obliegt aber der ersten Lehrerkonferenz des Schuljahres. Hier entscheidet also das Team.
herrsching.online: Die Architektur hat mit den Lernhäusern sozusagen den Grundstein gelegt für eine neue Art der Wissensvermittlung. Für alle, die im Frontalunterricht in konventionellen Klassen groß geworden sind: Was sind Lernhäuser?
Weingandt: Lernhäuser sind kleinere autarke Einheiten, in denen zum Beispiel alle 5. Klassen untergebracht sind oder auch die Klassen 5a, 6a und 7a. Sie verfügen über sogenannte Instruktionsräume, darüber hinaus aber über viele unterschiedliche freie Flächen für teamorientiertes Arbeiten, Präsentation oder auch Rückzug und konzentriertes Arbeiten alleine. Die Lehrkräfte befinden sich mit ihrem Büro im Lernhaus und sind für die Kinder und Jugendlichen ansprechbar. Natürlich gibt es weiterhin frontalunterrichtliche Phasen. Manche Dinge kann eine Lehrperson als Experte einfach am besten erklären. Darauf aufbauend gestalten unsere Lehrkräfte Phasen des selbständigen, individualisierten Lernens unserer Schülerinnen und Schüler im Lernhausbereich. Gerade für diese Phasen werden dann übrigens Tablets und KI genutzt.
Ab der Achten lernen Schülerinnen und Schüler in Fachwelten
Ab Jahrgangsstufe 8 lernen unsere Schülerinnen und Schüler in Fachwelten wie Deutsch, Sprachen, Gesellschaftswissenschaften, Mathematik, Chemie, Biologie, Informatik, Kunst, Musik, Sport, wo sie eintauchen, experimentieren und entdecken können.
herrsching.online: Technologiegestütztes Lernen verspricht die Website des neuen Gymnasiums. Ist das Tablet mehr als Buchersatz? Wie muss man sich Unterricht mit allgegenwärtiger Elektronik vorstellen?
„Elektronik ist nicht allgegenwärtig“
Weingandt: Die Elektronik ist eben nicht allgegenwärtig. Wenn unsere Schülerinnen und Schüler das Haus betreten, werden die Smartphones im Spind verstaut und nur herausgenommen, wenn es in der Lernsituation sinnvoll und notwendig ist, zum Beispiel bei der Nutzung als Messinstrument oder zur Musikverwendung. Tablets werden dann eingesetzt, wenn sie einen Mehrwert bringen, zum Beispiel bei der Verwendung von KI-gestützten Lernapps für individualisiertes Lernen, zur Recherche, zur Erstellung von Lernprodukten und bei onlinegestützten Prüfungsformaten. Die Herrschinger Schülerinnen und Schüler schreiben mindestens bis zur Jahrgangsstufe 9 auf Papier, gerne auch länger, wenn sie das wollen. Und ja, Onlinebücher werden durchaus genutzt.
herrsching.online: Sogar Emotionen sollen für den Lernerfolg eingesetzt werden. Wie muss man sich das vorstellen? Sollen sich Schüler jeden Morgen auf die Schule freuen, als würden sie einen Skiausflug machen?
Weingandt: (lacht) Das wäre natürlich ideal. Tja, Emotionen sind wohl immer im Spiel… Im Ernst: Wir versuchen eine positive Lernatmosphäre herzustellen. Dies gelingt zuallererst über die Förderung von positiven Beziehungen zwischen allen Beteiligten. Die Lehrkräfte haben ihren Arbeitsplatz in den Lernhäusern und Fachwelten, sehr eng bei unseren Schülerinnen und Schülern. Sie begleiten sich gegenseitig – wenn möglich – über mehrere Jahre. Peertutoringsysteme stellen enge Lernbeziehungen zwischen den Lernenden her, Ältere helfen Jüngeren, Leistungsstarke übernehmen Coachingrollen.
Wir trainieren zum Beispiel gezielt Wohlbefinden, denn es ist eine Grundlage von Leistung, erst recht von Spitzenleistung. Und Lernen ist harte Arbeit und Spitzenleistung. Dazu fördern wir über ganz einfache Übungen positive Emotionen, legen auf gemeinschaftliches Engagement Wert und unterstützen unsere Schülerinnen und Schüler bei der eigenen Zielerreichung. Eine „gesunde Schule“ hat ebenfalls einen hohen Stellenwert, zum Beispiel durch regelmäßige Bewegungsphasen.
herrsching.online: Müssen die Lehrerinnen und Lehrer in Ihrem Haus besondere Fähigkeiten mitbringen oder zusätzliche Ausbildungen absolvieren?
„Wir wollen weg vom reinen Wissensvermittler“
Weingandt: Für die Mitarbeit im Team Gymnasium Herrsching ist entscheidend, dass man bereit ist, Lernarrangements und Leistungsmessungen im Team zu entwickeln und zu teilen. Dies ist nicht nur arbeitssparend und effizient, es entsteht auch ein größeres Gemeinschaftsgefühl und eine höhere Qualität der Vorhaben. Wir wollen weg vom reinen Wissensvermittler, der einen Unterricht für alle macht. Wir wollen hin zum Regisseur, Organisator und Begleiter, um kompetenzorientierte, anspruchsvolle, motivierende Lerndesigns zu entwickeln.
hersching.online: Stehen eigentlich Gymnasien und Realschulen in einem unsichtbaren Wettbewerb miteinander? Gibt es im Kultusministerium Rankings oder Methoden, um den Erfolg von Schule zu messen?
„Rankings werden aber explizit nicht erstellt“
Weingandt: Ich sehe da keinen Wettbewerb, denn es ist wichtig für jedes Kind, die geeignete Schulform zu finden. Das bayerische Schulsystem ist so durchlässig, dass es mit jedem Abschluss möglich ist, irgendwann Abitur zu machen, wenn man das möchte. Natürlich gibt es Testsysteme, denen wir uns regelmäßig unterziehen müssen, zum Beispiel in Form von Jahrgangsstufentests. Diese werden dann bayernweit ausgewertet und man kann entnehmen, in welchem Sektor sich die eigene Schule im Bayernvergleich befindet. Rankings werden aber explizit nicht erstellt.
herrsching.online. Wenn Lernen mit spektakulärem Seeblick in bestens ausgestatteten Lernhäusern mit neuem pädagogischen Ansatz zu attraktiv ist – fürchten Sie nicht, dass das Herrschinger Gymnasium eine Sogwirkung im Landkreis auslöst?
Weingandt: Wieso sollte ich mich davor fürchten (lacht)? Das würde mich sehr freuen, ich muss Ihnen aber sagen, dass wir im Landkreis zahlreiche hervorragend arbeitende Gymnasien haben, manche davon auch in Seelage! Von den sehr gut aufgestellten Realschulen haben Sie ja selbst schon gesprochen.
herrsching.online: Werden die Abiturienten des Herrschinger Gymnasiums besser vorbereitete Studenten werden?
Die vier Ks: Kommunikation, Kollaboration, Kritisches Denken und Kreativität
Weingandt: Das wünsche ich mir! Eine Vorbereitung auf die Herausforderungen der Zukunft steht im Mittelpunkt unserer gymnasialen Lernarrangements. Dabei versuchen wir die vier Schlüsselkompetenzen des 21. Jahrhunderts zu stärken: Kommunikation, Kollaboration, also intensive Zusammenarbeit im Team, Kritisches Denken und Kreativität.
herrsching.online: Die Bildungspolitik versucht gerade, Lehrberufe wieder attraktiver zu machen, um dem Fachkräftemangel zu begegnen. Was könnte ein Gymnasium dazu beitragen, auch nichtakademische Berufe wieder beliebter zu machen?
Weingandt: Es ist wichtig zu erkennen, worin die eigenen Stärken liegen und diese selbstbewusst in der Berufswelt einzusetzen. Die Eltern haben dabei natürlich eine sehr, sehr wichtige Rolle, ihr Kind beim eigenen Weg zu unterstützen. Das Gymnasium bereitet explizit auf einen akademischen Weg oder auch anspruchsvollen Ausbildungsberuf vor. Das ist unser Auftrag. Gymnasiale Bildung trägt dennoch dazu bei, einen Überblick über die Berufswelt zu bekommen und den eigenen Weg zu finden. Sehr gerne erzähle ich in diesem Zusammenhang von den Erfahrungen eines Autoverkäufers einer deutschen Luxusmarke. Er berichtete, dass der neue typische Käufer im Haus immer öfter Handwerker sei.
herrsching.online: Sie haben eine einmalige Chance, eine neue Schule zu prägen. Fürchten Sie sich manchmal vor dieser Herkulesaufgabe – oder ist es pure Lust, als Schulpionierin Großes zu leisten?
Weingandt: (schmunzelt) Also, natürlich ist meine Aufgabe eine Herausforderung, – und keine kleine, das stimmt. Aber ich freue mich sehr, das Gymnasium Herrsching mit meinem Team aufzubauen und gestalten zu können. Ich fühle mich sehr gut vorbereitet, denn ich beschäftige mich seit meiner Promotion im Jahre 2005 mit Qualität von Schule und habe in mehreren Schulleitungsteams gearbeitet. Der wissenschaftliche Stand zu guter Schule ist bestens erforscht, man kann dies alles zum Beispiel im Bayerischen Qualitätstableau (ISB) nachlesen. Internationale Bildungsforscher formulieren in diesem Zusammenhang seit etlichen Jahren unter anderem auch sehr medienwirksam Thesen über lernwirksamen Unterricht. Sehr spannend ist es nun, diese Erkenntnisse an einem Gymnasium in den Mittelpunkt der Arbeit zu stellen und umzusetzen. Ich wünsche mir, dass wir im Team Gymnasium Herrsching eine Kultur des gemeinsamen Arbeitens, Lernens, Gestaltens, Ausprobierens und Weiterentwickelns etablieren. Und dass das Team dann Großes leistet, davon bin ich überzeugt!
Vielen Dank, dass Ihr das Thema mit den Exen hier aufgreift. Gestern hat Landrat Frey auf der Bürgerversammlung nämlich das apodiktische Statement formuliert: „Und ja, am neuen Gymnasium werden auch Exen geschrieben.“ Mich hatte diese Aussage irritiert, das auf der Infoveranstaltung ja genau das Gegenteil behauptet wurde. Gut, dass die Entscheidung also weder beim Landrat noch beim Ministerpräsidenten, sondern bei den Pädagogen liegt. Jetzt herrscht zumindest Klarheit über den Entscheidungsprozess.