Das Zeitlupentempo in manchen Behörden kann auch Gutes bewirken: Das Tempo-30-Schild am ehemaligen Kindergarten Kunterbunt hängt nun seit einem halben Jahr „illegal“ an der Rieder Straße. Der neue Kindergarten hat im August den Betrieb aufgenommen, und die verkehrsberuhigte Zone an der Lagom-Siedlung fordert immer noch zum Drosseltempo auf. Wir gratulieren jedenfalls herzlich zum Halbjahres-Jubiläum. Weniger schön: Dort, wo Kinder und Eltern wirklich vor Rasern geschützt werden sollten, darf Gas gegeben werden: Genau vor dem neuen Kindergarten hängt ein Tempo-50-Schild. Die juristische Posse des Jahres: In diesem Abschnitt der Rieder Straße wird es kein Tempo 30 geben. Begründung des Landratsamtes (das für Staatsstraßen zuständig ist): Die Zufahrt zum Kindergarten und Hort liegt nicht an der Rieder Straße, sondern an einem Seitensträßchen. herrsching.online hat zu diesem „Schildbürgerstreich“ (Gemeinderat Wolfgang Schneider, SPD) mit der Vorständin des Kindergartens, Tina Drexler, ein Interview geführt. Im Anhang zu diesem Gespräch lassen wir auch Landrat Stefan Frey zu Wort kommen.
Die Straßenverkehrsordnung, oder besser: die Verwaltungsvorschrift zur StVO, schreibt vor, dass vor Kindergärten, Schulen, Altersheimen und Krankenhäusern Tempo 30 gelten muss. Wo also ist das Problem beim neuen Herrschinger Kinderhaus? Am Eingang. Der liegt nämlich nicht direkt an der Rieder Straße, sondern an einer kleinen Nebenstraße. Deshalb ließ das Landratsamt verlauten, dass eine Tempo-30-Zone am neuen Kinderhaus aus rechtlichen Gründen nicht möglich sei. Wenn die Polizei im neuen Tempo-Drossel-Abschnitt kontrollieren würde, könnten Gerichte die Bußgeldbescheide aufheben, weil die Rechtsgrundlage fehlt. Dazu Vorstandsmitglied Tina Drexler vom Kinderhaus Kunterbunt Herrsching e. V:
herrsching.online: Eigentlich müssten Sie den Eingang zum Kinderhaus nach Westen verlegen…
Drexler: Nein. Es gibt zwei rechtliche Möglichkeiten, vor besagten Einrichtungen eine Tempo-30-Zone zu errichten. Einmal ist es der direkte Zugang – den wir leider nicht haben. Zweite Möglichkeit: Wenn im Nahbereich der Einrichtung, so sagt es die Verwaltungsvorschrift zur StVO,
• starker Ziel- und Quellverkehr mit all seinen kritischen Begleiterscheinungen
• zum Beispiel Bring- und Abholverkehr mit vielfachem Ein- und Aussteigen,
• erhöhter Parkraumsuchverkehr,
• häufige Fahrbahnüberquerungen durch Fußgänger, – Pulkbildung von Radfahrern und Fußgängern
vorhanden sind.
Dass wir häufige Fahrbahnüberquerungen haben, ist ja schon dadurch belegt, dass wir eine Querungshilfe, volkstümlich eine Verkehrsinsel, haben. Und an einer Verkehrsinsel wird nun mal eine Straße häufig überquert.
herrsching.online: Gibt es viele Kinder und Eltern, die über den Unteren Stocketweg und den Fendlbachweg zum Kindergarten kommen, sich also dem Kindergarten von hinten nähern?
Drexler: Ja, viele Kinder und Eltern, die in der Hechendorfer Straße wohnen, kommen natürlich alle über den Fendlbachweg. Kinder, die aus Zentralherrsching, also von Süden kommen, benutzen nach wie vor den Gehweg über die Rieder Straße.
Wir haben seit Schulbeginn auch noch eine Hortgruppe mit 24 Kindern im Haus. Diese Kinder kommen um 11.30 Uhr, 12.30 Uhr und 13.15 Uhr mit dem Bus von der Christian-Morgenstern-Schule und steigen unten an der Bushaltestelle gegenüber des Segelclubs aus, benutzen die Drückampel, überqueren die Rieder Straße, gehen auf dem Fußweg zur Verkehrsinsel vor dem Kinderhaus und überqueren dort die Fahrbahn. Die Drückampel ist übrigens nicht immer zuverlässig, sie fällt manchmal aus.
Aktuelle Information: Die Bushaltestelle wird direkt vor den Kindergarten verlegt, so dass die Kinder die Straße nicht mehr überqueren müssen.
herrsching.online: Die Tempo-30-Zone wurde ja schon einmal nach Süden versetzt, aber da stand das Kinderhaus noch gar nicht. Aber immerhin – es funktionierte damals.
Drexler: Da gab’s im Landratsamt noch andere Zuständigkeiten.
herrsching.online: Das Landratsamt beruft sich darauf, dass Bußgelder wegen zu schnellen Fahrens in einer rechtswidrigen Tempo-30-Zone vor Gericht keinen Bestand hätten. Dabei wurde doch so gut wie nie in der alten Tempo-30-Zone vor der Villa Kunterbunt kontrolliert. Und wenn’s keine Bußgeldbescheide gibt, kann kein Gericht eine solche Zone als rechtswidrig bezeichnen.
Drexler: Tatsächlich habe ich es in den letzten vier Jahren nicht erlebt, dass da kontrolliert worden wäre. Wenn, wie schon gesagt, die alte Tempo-30-Zone vor der ehemaligen Villa Kunterbunt einmal wegfällt und die Autos auf der Rieder Straße ohne Unterbrechung mit 50 Sachen durchfahren werden, wird es an der Querungshilfe noch viel gefährlicher als bisher.
„Einig waren sich alle Beteiligten, dass Tempo 30 wünschenswert gewesen wäre“
Landrat Stefan Frey im herrsching.online-Interview über das fehlende Tempolimit am Kinderhaus Kunterbunt.
herrsching.online: Dürfen die Herrschinger Bürgerinnen und Bürger davon ausgehen, dass das Landratsamt eine Tempo-30-Zone vor Kindergärten und Schulen als wünschenswert ansieht?
Frey: Ob wünschenswert oder nicht. Das Landratsamt muss geltendes Bundesrecht (Straßenverkehrs-Ordnung) vollziehen. Heißt konkret, dass vor Ort kein Tempo 30 angeordnet werden darf, da sich die verkehrliche Situation für den Kindergarten durch den neuen Zugang wie die Hol- und Bringzone in der Seitenstraße am Fendelbach wesentlich und wünschenswert deutlich entschärft hat. Und wir darüber hinaus im Einvernehmen mit dem Bürgermeister, der Polizei sowie der Leiterin des Kinderhauses und einem Vertreter des Elternbeirates auf Basis der geltenden Rechtslage weitere gute Lösungen gefunden, die der Situation vor Ort gerecht werden und die Sicherheit der Kinder nochmals erhöhen. Dazu gehört beispielsweise eine weitere Bushaltestelle auf Höhe der Mittelinsel. Dadurch können die (Hort-)Kinder sicher auf den Gehweg aussteigen und müssen keine Straße mehr queren. Während der Bus hält, können auch keine Autos am Bus vorbei, dies schafft weiter Sicherheit und stoppt in dieser Zeit den fließenden Verkehr. Auch ein Beschilderung, die auf die Kinder hinweist, wird es geben. Dazu kommen temporäre Geschwindigkeitsanzeigen, Überwachungen durch die Kommunale Verkehrsüberwachung sowie voraussichtlich im Frühjahr eine längerfristige Geschwindigkeitsmessung. Einig waren sich alle Beteiligten, dass ein Tempo 30 wünschenswert gewesen wäre. Leider hat der Gesetzgeber aber – entgegen seiner ursprünglichen Absicht – mit seiner letzten Novelle der Straßenverkehrs-Ordnung im Sommer 2024 jedoch keine Veränderung der bisher geltenden gesetzlichen Regelungen herbeigeführt.
„Kein starker Ziel- und Quellverkehr mehr“
herrsching.online: In Kommentaren zur StVO wird bei der Einrichtung einer Tempo-30-Zone vor Kindergärten und Schulen auch „auf starken Ziel- und Quellverkehr“ abgehoben. Und der darf beim Kinderhaus Kunterbunt als gegeben angenommen werden. Warum hat das Landratsamt diesen „juristischen Fluchtweg“ nicht benutzt?
Frey: Weil über die neue Zuwegung des Kindergartens über die Seitenstraße am Fendelbach genau dieser starke Ziel- und Quellverkehr mit entsprechender Gefahrenlage vor Ort nicht mehr gegeben ist. Da sind sich alle Fachleute einig. Durch die neu entstehende Bushaltestelle schon zweimal nicht.
herrsching.online: Wenn ein Amtsgericht einen Bußgeldbescheid aufhebt, muss das ja nicht heißen, dass der Amtsrichter die Rechtsgültigkeit einer Tempo-30-Zone restlos überblickt. Schließlich gibt es vermutlich noch keine Berufung oder eine Revision gegen die Aufhebung eines Bußgeldbescheides wegen einer Tempo-30-Überschreitung vor einem Kindergarten? Könnte eine Behörde nicht einfach solche Urteile ignorieren, schließlich ist nur ein Verwaltungsrichtsurteil für eine Behörde bindend.
Frey: Die Rechtslage ist hier klar und eindeutig. Das Landratsamt hat alle Handlungsspielräume der Straßenverkehr-Ordnung abgeprüft. Impliziert also die Frage, geltendes Recht zu ignorieren und willkürlich zu verfahren? Es gibt jüngst ein konkretes Beispiel im Landkreis (Gemeinde Berg), in dem das Landratsamt von der Aufsichtsbehörde in einem vergleichbaren Fall angewiesen wurde, wieder Tempo 50 anzuordnen. Einen weiteren vergleichbaren Fall gibt es in Wörthsee, der über eine Petition entsprechend vom Innenministerium klargestellt worden ist.
„Behörde sollte keine rechtswidrigen Verkehrszeichen aufstellen“
herrsching.online: Nach Auskunft des Kinderhauses wurde in den letzten vier Jahren in der Tempo-30-Zone am alten Kindergarten gar nicht kontrolliert, obwohl diese Zone gewiss rechtsfehlerfrei war. Und wo kein Kläger, da kein Richter? Würde eine Tempo-30-Zone, die nicht beanstandet wird, weil es keinen Bußgeldbescheid gibt, nicht helfen, den Verkehr zu beruhigen? Damit wären auch die Gemüter besorgter Eltern beruhigt.
Frey: Nein, würde es nicht! Unabhängig davon, dass die Straßenverkehrsbehörde bewusst keine rechtswidrigen Verkehrszeichen aufstellen sollte, wäre die von Ihnen genannte Wirkung allenfalls von kurzer Dauer. Die Erfahrung zeigt, dass es nicht lange dauert, bis die erste Beschwerde über die Tempo 30-Regelung bei der Aufsichtsbehörde landet und wir die Schilder wieder abmontieren müssen. Und der Fall in Herrsching hat nicht zuletzt durch die entsprechende öffentliche Berichterstattung bereits rege Aufmerksamkeit bei vielen Verkehrsteilnehmern erfahren, nicht nur bei Eltern und Anwohnern.
herrsching.online: Würde ein formal als Eingang deklariertes Tor an der Rieder Straße, also nach Westen, juristisch ausreichen, um eine Tempo-30-Zone zu rechtfertigen?
Frey: Nein, der müsste dann auch tatsächlich als Eingang genutzt werden. Und künstlich eine neue Gefahrensituation zu schaffen, wäre doch auch völlig absurd, wenn die Gefahren durch den Neubau extra entschärft wurden.