Wo alle dasselbe denken, wird nicht viel gedacht. Und deshalb strengen wir uns – ganz im Sinne von Karl Valentin – an und denken uns Herrsching mal ganz anders: Frei von Sachzwängen und Geldsorgen mit Lust auf verrückte Ideen. Den Anfang machen wir mit einem Gebäude, das die Phantasie beflügelt: dem Bahnhof. Die Vorsitzende von Pro Natur, Karin Casaretto, stellt sich einen Volksbahnhof so vor:
• Bahnhofs-Manufaktur als Gemeindetreffpunkt
• Schüler-Snack-Station statt Luxusrestaurant
• Flexibles Wirtshaus, das auch als Theater und Musikbühne funktioniert
• Eisenbahn-Waggon als Jugendcafé
• Waggon als Co-Working-Space für Start ups
• Am neuen Ufer des Kienbachs treppenförmige Sitzplätze als Gemeindetreff
• Finanzierung durch Verkauf von Bahnhofswohnungen
herrsching.online: Der Bahnhof soll nach dem Willen der Gemeinderatsmehrheit ein Hybrid zwischen gehobener Genusswerkstatt und Town hall werden. Es soll ein feines Restaurant werden,
dessen Pächter die Zeche des Umbaus zahlt. Dazu soll es aber auch Kultur und Läden
geben. Kann das Konzept aufgehen?
Casaretto: Dieses Projekt einem externen Investor zu überlassen, würde kaum die Erwartungen der
Menschen vor Ort erfüllen – wie könnte ein Außenstehender das Herz und die Identität von
Herrsching treffen? Das wäre so, als würde die Klosterbrauerei in Andechs in Zukunft Kölsch
verkaufen.
herrsching.online: Sie haben das Konzept einer Bahnhof-Manufaktur Herrsching entwickelt. Was verstehen Sie darunter?
Casaretto: Bahnhöfe sind pulsierende Orte, an denen Menschen aller Alters- und Gesellschaftsgruppen
aufeinandertreffen. In einer Manufaktur entstehen Dinge, die eng mit einer Region, ihrer
Tradition und den Menschen vor Ort verbunden sind. Die „Bahnhof-Manufaktur“ kombiniert
beide Aspekte. Sie soll ein lebendiger Ort der Begegnung, des Austauschs und des kulturellen
Miteinanders werden, wo sich die Identität von Herrsching authentisch entfalten kann. Die
Bahnhof-Manufaktur wird das Bürgerzentrum für Herrsching – gestaltet und geprägt von den
Menschen, die diesen Ort ihr Zuhause nennen.
herrsching.online: Das erste Mal spricht jemand über genaue Zielgruppen, die der Bahnhof bedienen soll. Welche Gruppen sind in Ihrem Konzept besonders angesprochen?
Casaretto: Mit der Eröffnung des neuen Gymnasiums werden künftig rund 600 Schüler aus Mittel-,
Realschule und Gymnasium den Bahnhof frequentieren, eine wichtige Zielgruppe also. Ein
schneller Snack auf dem Weg in die Schule oder ein bezahlbares Mittagessen auf dem
Heimweg wären beispielsweise für Schüler und Betreiber ein echter Gewinn. Die „Bahnhof-
Manufaktur“ fokussiert sich im Besonderen auf die Zielgruppen der Herrschinger Bürgerschaft.
Sie kreiert Begegnungsräume für Jugendliche, Familien, Senioren, Kulturschaffende, Vereine
und Start-Ups aus der Region.
herrsching.online: Begegnungsstätte statt Fine Dining?
Casaretto: In der Bahnhofshalle selbst befindet sich ein flexibles Restaurant, das auch Raum für
Theateraufführungen, Musik und Begegnung bietet. Hier treffen kulinarische Fantasie, kulturelles
Programm und bürgerschaftliches Engagement aufeinander. Im ersten Stock des Gebäudes
sollte die Volkshochschule ihren Hauptsitz haben, hier sollten sich auch Räumlichkeiten für Herrschinger
Vereine befinden.
herrsching.online: Der Bahnhof soll ja nicht nur ein Treffpunkt der Bürger, sondern auch der Generationen werden. Wie und wo kommen in dem Konzept auch die Jugendlichen vor?
Casaretto: Für Jugendliche und junge Erwachsene entsteht in einem ehemaligen Zugwaggon ein
„szenisches“ Jugendcafé, das sich auf den stillgelegten Gleisen hinter dem Bahnhofsgebäude
befindet. Im sogenannten „Lost Place“ auf dem Bahndamm finden in einem weiteren Waggon
Büroplätze für Start-ups, oder Werkstätten für lokale Handwerksinitiativen Platz. Diese inspirierende
Community würde die Infrastruktur der „Bahnhof-Manufaktur“ nutzen und zur Vielfalt des
Ortskerns beitragen.
herrsching.online: Viele Waggons auf dem Gelände….
Casaretto: Die sind sogar die Sahnehäubchen dieses Konzeptes. Zum Beispiel das Jugendcafe hinter dem Bahnhof. Ein ausrangierter Zugwaggon wird in einen lebendigen Treffpunkt für Jugendliche und junge Erwachsene verwandelt. Morgens auf dem Weg zur Schule, nachmittags nach dem
Unterricht oder abends nach der Arbeit können junge Menschen hier einen bezahlbaren Snack
oder ein Getränk genießen. Da das ‚Stellwerk‘ bereits um 19 Uhr schließt, soll ‚der Waggon‘
bis 23 Uhr geöffnet bleiben, um jungen Leuten auch am Abend einen Ort für Austausch und
Entspannung zu bieten.
herrsching.online: Sie liebäugeln auch mit der Einbeziehung des Kienbachs in das Konzept?
Casaretto: Ja, im Zuge der Kienbachsanierung wird der angrenzende
Bachlauf geöffnet, so dass das Ufer wieder zugänglich wird. Geplant sind, wie in einem
Amphitheater, halbkreisartig angeordnete Sitzstufen, die bis zum Wasser hinunterführen und im
Zusammenspiel mit dem Café eine einladende und harmonische Atmosphäre schaffen. Diese
Stufen bieten nicht nur Sitzgelegenheiten, sondern ermöglichen auch eine natürliche
Verbindung zum Kienbach.
herrsching.online: Bahnhöfe, auch ehemalige, haben immer eine zwielichtige Funktion. Tagsüber sind sie das Scharnier zwischen Ort und Verkehrsmitteln, nachts der Treffpunkt von Leuten, denen man mitunter nicht in der Dunkelheit begegnen würde. Auch der Herrschinger Bahnhof war ein
Drogenumschlagplatz. Kann man einen solchen Standort sozial sanieren?
Casaretto: Schauen wir mal genauer hin: Mitten im Herzen von Herrsching erstrecken sich fast 300 Meter stillgelegte Gleise auf einem verwilderten Bahndamm, flankiert von einem historischen
Bahnhofsgebäude aus dem Jahr 1903. Südlich des Gebäudes fließt der Kienbach, noch immer
unterirdisch versteckt. Aktuell ein guter Drehort für einen Vorstadtkrimi. Doch wenn dieser Ort
wieder mit Vitalität und Leben gefüllt wird, der Kienbach den Bürgerinnen und Bürgern zugänglich gemacht, und der historische Bahnhof, wie vom Architekten Welsch geplant, zeitgemäß renoviert wird,
entsteht ein authentischer und einzigartiger Platz. Dieses Potenzial schreit danach, entwickelt zu
werden, – da steckt absolut „Kult“ drin !
herrsching.online: Das alles kostet Geld, viel Geld, das die Gemeinde angeblich nicht mehr hat. Wer soll das alles finanzieren?
Casaretto: Ein zentraler Bestandteil der Finanzierung des Bahnhofsgebäudes wäre eine
Quersubventionierung. Dabei würden die beiden Dachgeschosswohnungen des Bahnhofs, als
„Arthouse-Loftwohnungen“ verkauft werden. Der Erlös finanziert die Sanierung und den Umbau
des Bahnhofsgebäudes. Staatliche Förderungen, insbesondere im Bereich Denkmalschutz,
Kulturförderung oder soziale Infrastruktur, könnten in Anspruch genommen werden.
Unternehmen aus Herrsching und Umgebung könnten als Sponsoren auftreten und durch die
Bereitstellung von Sachleistungen das Projekt unterstützen, was gleichzeitig eine Werbung für
die Unternehmen darstellen würde. Gemeinnützige Stiftungen, die Kultur und soziale Projekte
fördern, könnten sich für die Finanzierung von Teilbereichen interessieren, zum Beispiel für die
Zugwaggons. Das Herrschinger Kollektiv „Künstler aus dem Einbauschrank“ könnte für die
Konzeption und Gestaltung der Waggons gewonnen werden. Für die Realisierung des
gesamten Projekts ist es erforderlich, dass die Gemeinde das Bahnhofsgelände für einen
Zeitraum von rund 20 Jahren von der Deutschen Bahn pachtet. Das wäre eine absolute Win-Win
Lösung, sowohl für die Deutsch Bahn als auch für Herrsching.
herrsching.online: Der Bahnhof steht zwar unter Denkmalschutz, aber besonders attraktiv sind die beiden Köpfe mit der verbindenden Halle nun auch wieder nicht. Wäre es nicht ehrlicher, das Ding
abzureißen und eine moderne Event-Location mit attraktiven Wohnungen zu bauen? Das
Grundstück gehört der Gemeinde, das Haus könnten Investoren bezahlen.
Casaretto: Die alte Bahnhofshalle mit ihrem Jahrhundertwende-Flair ist perfekt für eine Genuss-Kultur-und Bürger-Manufaktur. Ich persönliche liebe die großen abgerundeten Fenster. Das historische
Gebäude hat einfach Charme und Charakter. Einen Neubau brauchen wir im Herzen von
Herrsching nicht.
herrsching.online: Wie alt muss man werden, um die Sanierung noch zu erleben?
Casaretto: Die Sanierung des Bahnhofs ist immer in Verbindung mit dem umliegenden Gelände zu sehen. Wenn die Gemeinde diese Flächen pachtet und selbst Schritt für Schritt entwickelt, könnte die
„Bahnhof-Manufaktur“ bereits in diesem Jahrzehnt realisiert werden. Der erste Schritt wäre die
Einrichtung des Jugendwaggons, der pünktlich zur Eröffnung des neuen Gymnasiums als
Treffpunkt für junge Menschen fertiggestellt wäre.
Ein großartiges Konzept von Karin Casaretto! Vielen Dank Karin!
Was bisher noch nicht erwähnt worden ist und dringenden Bedarf hat ist ein barrierefreier Kultursaal und Treffpunkt. Der Bahnhof scheint mir dazu wesentlich besser geeignet als die alte katholische Kirche, weil er auch so verkehrsgünstig liegt. Es gibt ja bereits andere Bahnhöfe , die zu Kulturtreffpunkten geworden sind. Wenn auch noch bezahlbare Gastronomie dabei ist , umso besser!
Hört sich richtig toll an!! Danke für diese Initiative und die kreativen Ideen, Frau Casaretto!! Und danke für das Interview, Gerd Kloos!
Als Vater zweier mittlerweile erwachsener Kinder, der seit vielen Jahren in Herrsching lebt, sehe ich mit Besorgnis, was aus unserem Bahnhofsgelände geworden ist. Es ist für mich erschreckend zu beobachten, wie junge Teenager dort ohne Aufsicht herumlungern, Drogen konsumieren und gewalttätige Auseinandersetzungen keine Ausnahme mehr sind. Die Wachleute, die die Deutsche Bahn sporadisch mit der S-Bahn schickt, scheinen nicht mehr als ein Anlass für ein Räuber-und-Gendarm-Spiel zu sein – wirkliche Veränderungen bringen sie nicht. Für mich ist klar: Die einzige Chance, diesen Ort wieder sicher und lebendig zu machen, liegt darin, ihn wieder zu einem wirklichen Treffpunkt zu entwickeln – und zwar für uns Einheimische, nicht nur für Touristen oder Tagesbesucher. Herrsching braucht hier auch kein weiteres teures Restaurant, das sich kaum jemand leisten kann. Was wir brauchen ist ein Konzept, das Kultur und Bürgerengagement zusammenbringt. Ein Raum, an dem Einheimische jeden Alters zusammenkommen und sich wohlfühlen können, der zugleich Anreize schafft, dass Menschen das Gelände aktiv nutzen und beleben. Ich sehe großes Potenzial in der Idee der „Bahnhofsmanufaktur“ von Frau Casaretto, insbesondere da das Konzept auf die Bedürfnisse der Herrschinger abgestimmt ist. Ein solches Projekt könnte den Ort nicht nur verschönern, sondern auch sicherer machen und der Jugend Alternativen zu den derzeitigen „Aktivitäten“ bieten. Mit einem tragfähigen Finanzierungskonzept und einer durchdachten Planung, die lokale Interessen in den Mittelpunkt stellt, wäre dies ein enormer Gewinn für uns alle.
Ein wunderbares Konzept und eine zündende Idee, die unbedingt zeitnah umgesetzt werden muss. Worauf warten wir noch? Herrsching braucht nicht nur Neubauten sondern gern die Revitalisierung von Bestandsbauten. Hier dürfen sich auch Dinge entwickeln und die junge Bevölkerungsschicht in Herrsching darf gerne tatkräftig mitmachen. Neben Schule und Vereinssport ist es eine wertvolle Erfahrung etwas positives für den Ort zu tun, an dem man zuhause ist und in Zukunft auch gerne bleiben möchte. Ich bin dabei und unterstütze Frau Casaretto herzlich gerne.
Hoffentlich lassen sich die entscheidenden Gemeinderäte von den Vorschlägen anregen….! Quersubventionierung, Einbeziehung der Umgebung, Analyse der Zielgruppen, Kenntnis anderer Bahnhofsumgestaltungen in deutschen Kommunen, Karin hat da schon einen sehr konstruktiven Beitrag veröffentlicht. Ich denke, dass auch andere Bürger noch gute Ideen haben und zu einem Gelingen der Umgestaltung beitragen könnten.
Der Bahnhofsbereich könnte sich dadurch zu einem echten Mittelpunkt der Gemeinde Herrsching entwickeln. Das Konzept einer EssBahn wurde bereits in vielen Städten realisiert. Nahezu legendär war die EssBahn am ehemaligen Flughafen Tegel.
Eine wirklich schöne Idee von Frau Casaretto, vielen Dank dafür. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Initiativen und Vereine begeistert mitmachen würden. Wir von Faltsch Wagoni und vom Café Blabla wären bei so einer Manufaktur sicher dabei. Man darf ja wohl noch davon träumen, dass nicht alles maximal groß, maximal luxuriös und kommerziell sein muss. Für die gesamte Bevölkerung von Herrsching wäre so ein Projekt mit Sicherheit ein Gewinn.
Es beruhigt mich schon sehr, dass das Bahnhofsgebaeude unter Denkmalschutz steht. Bestimmt finden sich Nutzungskonzepte die keine Abrissphantasien beflügeln.