Alle reden über die Flüchtlinge, und viele reden schlecht über sie. herrsching.online wollte von Menschen, die zu diesem Thema ein profundes Urteil abgeben können, wissen: Wie sind Eure Erfahrungen in der Flüchtlingsarbeit? Silvana und Thomas Prosperi, Johanna Neubauer-da Luz und Sonja Waldvogel-Freund vom Verein „Wir schaffen das” sind vom Attentat in Solingen erschüttert, lassen sich aber von ihrer Überzeugung nicht abbringen. „Was wir machen, ist Friedensarbeit vor Ort”, sagt die Juristin Sonja Waldvogel-Freund. Das Interview im Blabla hat denn auch nichts gemein mit dem politischen Wortkrieg der vergangenen Tage.
herrsching.online: Was hat das Attentat von Solingen mit Euren Schützlingen gemacht?
Silvana Prosperi: Wir können das nur für uns beantworten. Wir sind entsetzt, so wie die meisten anständigen Menschen. Unsere Schützlinge sind zum Teil auch entsetzt. Und sie realisieren, dass die ganze Diskussion wieder losgeht, jetzt sind wir wieder schuld, aber wir sind doch friedliebende Menschen.
herrsching.online: Eine wie auch immer geartete Form von Sympathie für solche Taten haben Sie bei den Flüchtlinge nicht erlebt?
Thomas Prosperi: Im Gegenteil. Wenn wir ein solches Thema angesprochen haben, spürten wir vollkommene Ablehnung für solche Taten. Die Flüchtlinge beschäftigt natürlich genauso , was in ihren Herkunftsländern passiert. Da geschehen Anschläge und Überfälle viel häufiger als bei uns, und genau deshalb haben die Leute ja auch die Flucht ergriffen. Sie sind genau deshalb hier, weil sie in ihren Herkunftsländern ständig Gewalt erfahren. Und dann erleben sie auch bei uns solche Taten, das ist für sie genauso furchtbar.
herrsching.online: Haben Sie nach diesen schrecklichen Nachrichten Reaktionen von Nachbarn und aus der Bevölkerung bekommen?
Johanna Neubauer-da Luz: Ja, wir werden mitunter schon gefragt nach dem Sinn der Flüchtlingsarbeit. Und dann erzähle ich, welche Probleme wir mit den Ämtern bei uns im Landkreis haben. Und ich spreche natürlich sehr gerne über die Qualitäten der Flüchtlinge, und sie haben oft große Qualitäten…
herrsching.online: Welche?
Johanna Neubauer-da Luz: Zum Beispiel Zuverlässigkeit. Die Flüchtlinge, die arbeiten, sind sehr zuverlässig. Mitunter fordern sie aber auch mehr Respekt von Chefs und Kollegen ein, den sie nicht kriegen. Es ist wirklich ein Problem, dass sie sich nicht gut behandelt fühlen. Ich bin dann für die Jungs, die ich betreue, der Rückhalt. Und ich sage ihnen auch, dass sie damit leben müssen, ich muss auch mit Frust am Arbeitsplatz leben. Ein Flüchtling, den ich betreue, sagte mir einmal: Johanna, wegen dir habe ich den Job nicht gekündigt. Er hat in der Arbeit nicht zu essen bekommen, was er sich vorgestellt hat. Ich hatte gerade einen Topf Gulasch auf dem Herd und hab ihm gesagt: Jetzt setz dich hin, iss Gulasch, und morgen sprichst du mit deinem Chef. Und dann hat er mit seinem Chef gesprochen, und alles war wieder in Ordnung. Diese Geschichte sagt uns, dass die Flüchtlinge Vertrauenspersonen brauchen, von denen sie aufgefangen werden.
herrsching.online: Haben die Flüchtlinge, viele noch sehr jung und mit Ansprüchen ans Leben, eine geringere Frustationsschwelle?
Sonja Waldvogel-Freund: Das kann man pauschal nicht sagen. Es gibt sicher Flüchtlinge, die weniger Frustrationstoleranz haben, aber ich kenne auch einige Deutsche, die mit Negativerlebnissen schlecht umgehen können.
Thomas Prosperi: Die meisten, die wir betreuen, sind sowas von geduldig, sie warten mit großer Geduld, bis sie endlich arbeiten dürfen, endlich rauskommen aus den Containern, dass sie endlich eine Wohnung bekommen, Kontakte aufbauen können. Es geht alles wahnsinnig langsam, und viele Flüchtlinge haben eine Engelsgeduld.
Silvana Prosperi: Da verlieren eher wir die Geduld: Warum muss der schon wieder aufs Landratsamt, schon wieder ins Jobcenter, schon wieder 20 Seiten ausfüllen.
herrsching.online: Was macht diese Hängepartie, in der sich viele Flüchtlinge befinden, mit den Menschen?
Thomas Prosperi: Oft langweilen sie sich fürchterlich, sie wissen nichts mit sich anzufangen, kommen deshalb vielleicht auch mal auf dumme Gedanken, was ich so allerdings noch nicht erlebt habe. Und in dieser staatlich verordneten Wartezeit gewöhnen sie sich daran, dass sie Geld bekommen, wenn auch nicht viel, dass sie eine Unterkunft gestellt bekommen, auch wenn sie nicht toll ist. Und wenn’s dann wirklich drauf ankommt, wenn das Jobcenter sagt: Jetzt aber arbeiten, haben sie natürlich Schwierigkeiten, in die Arbeit zu finden.
Silvana Prosperi: Nach 2015 durften die Flüchtlinge gar nicht arbeiten. Wir hatten damals schon gefordert: Lasst sie arbeiten, so lernen sie die Sprache schneller, sind Vorbild für ihre Familie. Jetzt langsam schwenkt die Politik um: Deutsch lernen steht nicht mehr an erster Stelle, sie sollen arbeiten. Wenn Leute 8 Jahre lang zum Müßiggang verurteilt waren, haben sie es schwer, ihren Arsch hochzukriegen….
herrsching.online: … wie Schüler nach den großen Ferien …
Silvana Prosperi:… das sind 6 Wochen, das ist doch ein kleiner Unterschied.
herrsching.online: Sie werden ja wohl in Integrationskursen auf das Arbeitsleben vorbereitet?
Thomas Prosperi: Ja, was sind das für Kurse, was machen die Flüchtlinge da? Der Staat hat eine völlig falsche Vorstellung davon, was Integration wirklich bedeutet. Über das neue Land lernt man doch nur etwas über den Kontakt zu den Einheimischen und nicht in einem Kurs mit Vorträgen und Lehrbüchern, deren komisches Deutsch niemand versteht. Der Staat verlangt, dass sie sich integrieren, aber wie soll das gehen, wenn man nicht wirklich willkommen ist.
herrsching.online: Wie schnell lernen Ihre Schützlinge denn die Sprache?
Silvana Prosperi: Wir betreuen jetzt junge Afghaninnen, deren Lerngeschwindigkeiten bewundernswert sind. Eine ist jetzt 2 Jahre hier und hat bereits die Lernstufe B 2 geschafft. Thomas unterrichtet ältere Männer, die sich natürlich schwerer tun mit der deutschen Sprache.
Neben der Vermittlung der Sprache haben wir auch ein Frauenprojekt – das vom bayrischen Staat gefördert wird – mit wöchentlichen Terminen. Da reden wir mit den geflüchteten Frauen über Freiheitsrechte, Gewalt und unsere Vorstellungen einer freien Gesellschaft. Als Frau Merkel noch Kanzlerin war, sagten uns Flüchtlinge: Bei euch ist das anders als bei uns, bei euch sind die Frauen die Chefs. Und wenn sie im Amt noch mit einer weiblichen Sachbearbeiterin zu tun hatten, war für die klar: Da funktioniert alles anders rum als bei uns. Gleichberechtigung ist in diesen Gesprächen ein wichtiges Thema.
Johanna Neubauer-da Luz: Wir vermitteln den Frauen auch, welche Rechte sie gegenüber ihren Männern haben. Eine Frau hatte uns mal gesagt: Ja, ich gehöre dem Mann. Wir haben ihr dann vermittelt, dass sie nicht dem Mann, sondern sich selber gehört. Das müsste man in den Integrationskursen auch den Männern erklären, wie wir in Deutschland miteinander leben.
herrsching.online: Stichwort Männer. Junge Flüchtlinge sind in der Kriminalitätsstatistk deutlich überrepräsentiert. Versagt da die Integrationspolitik vollständig?
Silvana Prosperi: Das kann man pauschal nicht sagen. Wir hören von ehemaligen Kindersoldaten, die eine unvorstellbare Gewalterfahrung mitbringen. Andere haben auf der Flucht extreme Erfahrungen gemacht. Diese Menschen bräuchten eine aufwendige Betreuung. Die jungen Menschen hierzulande wachsen im Vergleich dazu im Wattebausch auf – und trotzdem gibt es bei uns auch Gewalt.
„Manchmal so traurig, dass ich im Bad heule”
Johanna Neubauer-da Luz: Ich lasse die Jungs, die ich betreue, viel erzählen. Die berichten von schrecklichen Szenen aus Afghanistan, einer zum Beispiel von einem Gefecht, wo er einen abgetrennten Kopf gesehen hat, und es war ein so schönes Gesicht, fügte er noch an. Er sei manchmal so traurig, dass er ins Bad gehe und heule. Ein anderer Flüchtling hat mal am ganzen Leib gezittert, den hab ich dann in den Arm genommen, dann hat er sich beruhigt. Die brauchen auch körperlichen Halt, nicht nur geistigen. In den Jugendheimen bekommen sie das alles nicht.
Thomas Prosperi: Ein Afghane hat mir erzählt, dass sie schon als Kinder mit der Kalaschnikow gespielt haben.
herrsching.online: An dieser Stelle müssen wir über den Vorschlag des CDU-Vorsitzenden sprechen, dass Flüchtlinge aus Afghanistan und Syrien nicht mehr ins Land gelassen werden…
„Taliban machen Abgeschobene zu Helden”
Silvana Prosperi: Ich bin sowas von enttäuscht von der deutschen Migrationspolitik. Selbst die Ortskräfte, die für die Bundeswehr gearbeitet haben, hat man zurückgelassen, obwohl ihnen versprochen worden war, sie da mit den Familien rauszuholen. Und Straftäter, die in deutschen Gefängnissen sitzen, sollen ihre Strafe in Deutschland absitzen. Die würde ich nicht den Taliban schenken, die machen solche Rückkehrer zu Helden. Das macht keinen Sinn.
Die afghanischen Flüchtlinge, die wir betreuen, sind so friedliebende Leute, so hilfsbereit, ja geradezu galant. Soviel Hilfsbereitschaft findet man hierzulande nicht so häufig. Die Freundlichkeit der Flüchtlinge hilft auch der deutschen Gesellschaft.
Thomas Prosperi: Der Herr Merz weiß genau, dass das Unsinn ist, was er da fordert. Das ist Wahlkampfgetöse.
Silvana Prosperi: Wenn wir durch Herrsching laufen, dann sehen wir in vielen Geschäften Flüchtlinge, die dort arbeiten, die wir zum Teil auch vermittelt haben. Sie wollen sich nützlich machen und nicht dem Staat auf der Tasche liegen. Und die meisten wollen arbeiten.
herrsching.online: Erschüttern Euch solche Attentate in Eurer Bereitschaft, die Flüchtlingsarbeit weiterzuführen?
„Was wir machen, ist Friedensarbeit”
Johanna Neubauer-da Luz: Mich noch nie. Aber man spürt schon, dass sich Helfer abwenden.
Sonja Waldvogel-Freund: Aber es kommen neue Helfer dazu. Ich lasse mich nicht verunsichern. Was wir machen, ist Friedensarbeit vor Ort. Wir bringen den Menschen den Respekt entgegen, den sie verdienen, den wir für uns beanspruchen.
Johanna Neubauer-da Luz: Ich höre aus dem Johanniterhaus, dass alle den Ali lieben. Ja warum wohl? Weil er herzlich ist. Nehmen wir es doch als Vorbild für unsere Gesellschaft.