Wenden wir uns nach all den düsteren, schrecklichen Bildern der letzten Woche wieder dem Leben zu, dem pulsierenden, schrillen, tönenden Leben im Kurpark, als die Sonne ein schönes Gastspiel in den Bäumen gab, und die Herrschinger Scala, diese Protztreppe am Kurparkschlösschen, vom Cantilena-Chor zur Musicalbühne geadelt wurde. „Das ist Cantilena: Es gibt keine Teile davon, es gibt nur das Ganze“, schreibt unser Rezensent. Und der muss es wissen.

Von Karl Rellensmann
»Open Hair« vor dem Schloss, Augenschmaus und Ohrenweide, offenes Haar vor dem Schloss, wie bitte? Ja und ob – jede Menge! Die Zahl der Perücken im Chor vor dem Kurparkschloss übertraf – als sie dann im tosenden Schlussapplaus gelüftet wurden – ja was eigentlich? Nein, es wäre langweilig, vorne zu beginnen, als man noch wusste, dass ein berühmtes Musical namens »Hair« ausgerechnet dort vor dem Kurparkschloss landen würde, so ein bisschen wie ein Außerirdischer. Oder doch eher eine Außerirdische? Selbst Ortsbekannte wurden kaum wiedererkannt bei dieser Travestie vor dem Wahrzeichen Herrschings. Oder war es Mimikri?
Also gut beginnen wir doch hinten. Open Hair also: wohin man auch blickte … Jetzt am Ende, als der Applaus nicht enden wollte und ein paar Hippies aus dem Chor mit Open Hair und Körben voller Geldscheine noch mehr Geldscheine sammelten, jetzt da endgültig die Nacht hereingebrochen war über diesen ganzen Spuk vor dem Schloss, als das riesige Peace-Zeichen oben am Balkon so richtig zu funkeln begann und die ersten Blumensträuße sich einen kniffligen Weg bahnten und die Chorleiterin (Elisabeth Schmidt) erreichten, jetzt begann man zu ahnen, dass man, dass frau, ja dass alle, auch die Bis, die Heteros, die Queers auf eine Weise gerührt waren, für die es in den Augen keine Drüsen gibt, weil es ja auch welche in den Ohren braucht: War es jetzt eine Augenweide, war es ein Ohrenschmaus oder vielleicht doch beides: eine Ohrenweide?

Es war großartig und auf eine Weise schön, die an jenes Bonmot erinnert, dass wahre Schönheit erst mit der Charme entsteht, mit der man kleine Makel verbirgt; nur ein Erbsenzähler würde die vermasselte Synkope zählen im siebten Lied oder war es das achte, wie auch immer: Es gab gleich danach einen Moment, als einer der Bässe aus dem Hintergrund, (der, neben dem mit der grellroten Hahnenkammfrisur) nach vorne sich seinen Weg zum Mikrophon bahnte (Wolfgang Schmidt) und dann »Give up all Desires« in einer derart schmunzelverbreitend komischen Intonation interpretierte, dass just über ihm der Balkon mit dem Peace-Zeichen schnappatmend die Lichtreflexe zu schmelzen begann: wie gesagt eine Ohrenweide.
Es ist ja so. Gerade jetzt eben werden in München riesige Verstärkertürme für noch riesigere Events aufgetürmt, Adele, Taylor Swift: Sie werden bis in den Himmel reichen, aber ich wette, es wird in Punkto Charme längst nicht an dieses hier vor den ganz anderen Türmen herankommen, im Ernst nicht, es wird perfekt sein, aber eben nicht so schön, mangels Makel und auch mangels Dämmerung und mangels Schloss, mangels Mondschein (er ist schon fast voll) und natürlich auch mangels dieser genialen Texte zwischendurch, von der Autorin persönlich gelesen (Leni Gwinner), besonders köstlich in ihren haarigen Texten rund um den fulminanten Titelsong: Hair.
Haare – sagt sie – dienten eben immer schon auch zur Revolte. Hier also zur Revolte vor dem Schloss. Zumindest einer poetischen »Verzeiht mir, wenn ich mich heute empör‘, seit Wochen kein Kunde beim Frisör« Klar doch, wenn man ihn schon Monate vor diesem Auftritt zu meiden beginnen muß. Ach und da gab es noch so einen genialen Moment gleich nach dem Klagelied des Friseurmeisters. Beginnt eben Hair, der Titelsong mit dem Intro von Dennis Pfaff: „She asked him why, Why I’m a hairy guy, I’m hairy noon and nighty-night night, My hair is a frigh“, und dann antwortet mutig Ludwig Schmidt queerstmöglich mit Büstenhalter, Bauchkettchen, transgender & non-binary lesbian, wie auch immer mit einer höchsterstaunlich männlichen Stimme: „I’m hairy high and low, But don’t ask me why, ’Cause he don’t know, It’s not for lack of bread, Like the Grateful Dead, darlin“ .Ein echt geniales Duett, die beiden. Überhaupt die Schmidts, was wäre Cantilena ohne diese ganze Familie („gefeatured von Cantilena“) Apollonia (Frank Mills) Magdalena (Easy to be hard) ohne dieses Herz also …? Nein, diese Frage stellt sich nicht, weil – als doch der Applaus nach ihren Songs vor allem ihnen galt, wandten sie sich geradezu schüchtern um und applaudierten ihrerseits: dem Chor, diesem bunten Haufen der Wassermänner und Wasserfrauen mit dahinter ihrem eigenwilligen Verstärkerturm im Kurparkschloss, das ist Cantilena: Es gibt keine Teile davon, es gibt nur das Ganze, wir gehören dazu, oder um mit den Worten von Leni Gwinner aus Undines Lied zu enden: „Aber sie, die Furchtlose / knallt ihre Arie in die Welt/ faucht Töne/ zischt Klänge/ die hinfortgetragen mit jedem O-Atom/ verdunsten, kondensieren, sublimieren/ ihr Gesang blitzt in jedem Tropfen … Wir nennen uns die Krone der Schöpfung/und erahnen nicht mal, was sie ist.“ μ

Mitwirkende:
Crashband/Leitung Christoph Zöller
Chor Cantilena
Birgit Henke/Klavier
Poesie: Leni Gwinner
Gesamtleitung: Elisabeth Schmidt
Veranstalterin: Musiklehrervereinigung Herrsching