Die Historikerin Dr. Friederike Hellerer bei ihrem Vortrag in der Herrschinger Realschule. Das Bild zeigt ein Nazi-Plakat, mit dem für die Vernichtung von „Erbkranken" geworden wurde. Foto: Gerd Kloos

„Es gab zu wenige Menschen mit Zivilcourage“

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Es war so still, als hätten die Schulferien schon begonnen: Die Schüler der Herrschinger Realschulklasse 9e blickten stumm in die dunkelsten Abgründe der deutschen Geschichte – sie wirkten angefasst, tief berührt oder vielleicht auch verstört ob der Ungeheuerlichkeiten, die sie in dieser Geschichtsstunde hörten. „Es kommt der hässliche Teil, es geht um Mord. Da gibt es nichts zu beschönigen“, sagte die Referentin vorne an der Tafel. Ohne Pathos, mit wissenschaftlicher Präzision berichtete die Historikerin und Gemeindearchivarin Dr. Friederike Hellerer, was unter dem verschleiernden Namen Euthanasie vor nun mehr 85 Jahren in Herrsching geschah.

Über 1000 Schülerinnen und Schüler hat Friederike Hellerer mit ihren Referaten zur „Euthanasie“ im Landkreis und in Oberbayern erreicht. „Ich habe in 10 Schulen vor allem im Landkreis gesprochen – manchmal vor 200 Zuhörern in der Aula.“ Die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler waren – genau wie in der Klasse 9e in Herrsching – gleich: „Bei manchen Klassen haben die Lehrer vorher zu mir gesagt, dass das unruhige Klassen seien. Aber die Schülerinnen und Schüler waren innerhalb kürzester Zeit absolut still. Da mussten die Lehrer nicht eingreifen.”

„Nie habe ich schroffe, ablehnende Reaktionen erlebt“

Haben die jungen Zuhörer dann noch Fragen? „Wenn man ihnen hinterher etwas Zeit gibt, kommen wahnsinnig viele Fragen, weil dieses Thema doch viele ethische Probleme aufwirft. Ich habe nirgends schroffe, ablehnende Reaktionen erlebt. Ganz im Gegenteil. Einzelne Schüler sind hinterher noch zu mir gekommen und haben versichert, dass sie noch über das Thema nachdenken und mit der Familie darüber reden müssten.“

Diese Schulreferate sind aus der von ihr konzipierten Ausstellung über die „Euthanasie“ entstanden: „Da sind Schulklassen in die Ausstellung gekommen. Und dann habe ich mir gedacht – warum nicht auch andersrum? Warum nicht mit dem Referat und der Ausstellung in die Schulen gehen?“

Herrsching – Heimat der Rassenhygieniker

„Euthanasie heißt eigentlich ‚guter Tod'“, begann Friederike Hellerer in der Herrschinger Realschule und führte mit diesem Begriff in die zynische Sprachverschleierung des NS-Regimes ein. Dann räumte sie gleich mit dem unwissenschaftlichen Begriff „Rassen“ auf: „Rassen gibt’s bei Tieren, nicht bei Menschen.“ Den lokalen Bezug zum nationalen Rassenwahn stellte sie mit einem Namen her, der zur Zeit wieder im kommunalpolitischen Feuer steht: Alfred Ploetz, der Pate der NS-Rassenhygiene. Die Arierrasse, so der Mediziner, der auf dem Gut Rezensried in Lochschwab lebte, müsse reingehalten werden, Kranker und Behinderter müsse man sich entledigen. Herrsching war aber nicht nur Heimat und Wohnsitz von Alfred Ploetz, sondern auch von Fritz Lang, der 1923 eine Professur für Rassenhygiene an der LMU München bekam.

1933, kaum waren die Nazis an der Macht, gab es ein „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“. Die Zwangssterilisierungen wurden Teil der Vernichtungsstrategie. Auch im Landkreis wurde mit deutscher Gründlichkeit sterilisiert. Hellerer berichtete den Schülern, und jetzt wird’s wirklich gruselig, von einem Ehepaar, das in einem Brief an Hitler um die Erlaubnis bat, sein behindertes Kind umbringen zu dürfen. „Zwischen 5000 und 10000 Kinder wurden 1937 bis 1938 mit Spritzen umgebracht – auch Kleinstkinder waren darunter.“ Was als lebensunwertes Leben galt, haben mit wissenschaftlicher Begleitung Politik und Medizin bestimmt. So wurde ein Ernst Lossa mit 13 Jahren umgebracht, weil er dem „fahrenden Volk, das als renitent galt“, angehörte.

„Wer nicht mehr arbeiten konnte, hatte schlechte Aussichten“

Während des Polenfeldzugs nahm die SS das „Euthansie“-Programm in die Hand und räumte die Pflegeanstalten des Landes aus. Ärztekollegien entschieden per Schreibtisch-Selektion – nach Aktenlage – über Leben und Tod von Patienten. Wer

– keine Angehörigen hatte

– nicht mehr arbeiten konnte

– öffentlichen Institutionen als Kostenverursacher zur Last fiel

„hatte schlechte Aussichten“, so die Historikerin Friederike Hellerer in ihrem Referat.

Die Massentötung, berichtete sie den fassungslos zuhörenden Schülern, wurden mit industrieller Wucht organisiert: Die sogenannten Grauen Omnibusse holten die Patienten ab und lieferten sie in Einrichtungen wie im oberbayerischen Egling ab. Dort wurden die Menschen dann vergast und in Massenkrematorien verbrannt. Mit zynischer Präzision führten die Standesämter Buch und benachrichtigten die Angehörigen mit erfundenen Todesursachen („verstorben an Blinddarmentzündung“). Der Schwindel flog mitunter auf, weil manche Mordopfer gar keinen Blinddarm mehr hatten. Andere Methoden, die Menschen umzubringen, waren das Aushungern oder die vollständige Verwahrlosung. Aus Breitbrunn fiel ein Johann Bader dem Mordfeldzug zum Opfer. In den Archiven fand Hellerer insgesamt 5 Herrschinger Euthanasie-Opfer.

Hätten die Herrschinger Opfer nicht auch Stolpersteine verdient?

Vielleicht denkt jemand mal darüber nach, an diese Schicksale mit Stolpersteinen zu erinnern?

Einer der wenigen Deutschen, die ihre Stimme gegen diesen Massenmord erhoben, war der katholische Bischof Clemens August Graf von Galen. Der Münsteraner Bischof protestierte 1941 in einer Predigt: „Es handelt sich hier ja nicht um Maschinen, es handelt sich nicht um ein Pferd oder eine Kuh, … Nein, hier handelt es sich um Menschen, unsere Mitmenschen, unsere Brüder und Schwestern! Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen meinetwegen! Aber haben sie damit das Recht auf das Leben verwirkt? Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben, solange wir produktiv sind, solange wir von den anderen als produktiv anerkannt werden?“

Menschen wie von Galen, die es wagten, öffentlich gegen den Massenmord zu protestieren, waren rar in Deutschland. Hellerer beklagte vor ihren jungen Zuhörern, dass es „zu wenige Menschen gab, die Zivilcourage hatten“.

Mit solchen Bildertafeln wurde die NS-Rassenlehre unters Volk gebracht. Schwarze rangierten ganz unten in der Hierarchie, die Arierrasse war für die Nazis die Krone der Schöpfung.

1 Comment

  1. Ein sehr lesenswerter Artikel zur Sache und meine Hochachtung für das Engagement unserer Herrschinger Archivarin, Frau Dr. Hellerer. Wenn man bedenkt, dass aufgrund der Rassenlehre, Hitler 1939 den Toetungsbefehl zur Euthanasie selbst unterschrieben hat, und dann mindestens 70 000 behinderte Menschen ermordet wurden, macht das mehr als betroffen. Die geistigen Wegbereiter dieser Lehre des „Unwerten Lebens“ sind in gleicher Weise schuldig geworden wie die Täter. Vielleicht hilft dieses Wissen dem gesamten Gemeinderat bei der notwendigen Entscheidung zur Umbenennung der Ploetzstrasse in Herrsching. Auch haben wir in Breitbrunn eine Filiale des Ringeisenwerkes, in dem geistig behinderte Menschen leben und arbeiten. Als Breitbrunnerin weiß ich, dass Sie unseren Respekt verdienen und lebe gerne in Ihrer Nachbarschaft. Auf nationalsozialistisch belastete Strassennamen verzichte ich deshalb sehr gerne.

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