Wenn Birgit wieder mal von Problemen des Alltags fast erdrückt wird, dann murmelt sie ihr Mantra: „Du bist Winterschwimmerin.“ Und sofort fühlt sie sich den Anforderungen des Lebens wieder gewachsen. Schwimmen im Kühl-, Kalt- und Eiswasser scheint so etwas zu sein wie ein Bad im Obelixschen Zauberzuber. Mit der Gänsehaut, so berichten es fast alle Kaltstarter, wächst auch ein unbeschreibliches Glücksempfinden. Für dieses Gefühl haben zehn Frauen und Männer einen Volkshochschulkurs fürs Winterbaden gebucht. Am Montag haben sie sich unter der Obhut des Rettungsschwimmers und Kaltbade-Gurus Dirk Brauns zu einem ersten „Warmup“ getroffen. Wer jetzt von Spinnern spricht, der irrt. Kursleiter Brauns weiß aus Erfahrung: „Winterschwimmer sind nicht nur sehr sympathische Menschen, sie sind auch glückliche Menschen.“ (Infos: Stephanie Baierl info@vhs-starnbergammersee.de
Zu Beginn des Einführungskurses in der Fischergasse berichten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer (Männer und Frauen gleichmäßig verteilt) von ihren Motiven: Stephanie möchte dieses unbeschreibliche Glücksgefühl, das sie schon einmal erlebte, jetzt zu ihrem Lifestyle machen. Gabi nimmt sich vor, künftig jeden Tag in den See zu steigen. Alex hatte es auch schon mal probiert und will dran bleiben. Und Isabelle will aus der Komfortzone ausbrechen.

Kann sie haben: Die ersten zwei Minuten im kalten bis eiskalten Wasser sind furchtbar, warnt Kursleiter Dirk Brauns, der tatsächlich sechs Mal in der Woche in einen kleinen See bei Bruck steigt. Brauns, ehemaliger Auslandskorrespondent deutscher Tageszeitungen, erzählt den Teilnehmenden ohne Panikmache und Schönfärberei, dass die ersten zwei Minuten furchtbar seien. Der Körper durchblute die Extremitäten nicht mehr, um die Kerntemperatur des Körpers zu stabilisieren. „Nach zwei Minuten lässt der Schmerz nach, es breitet sich ein angenehmes Gefühl aus.“
Warum aber muss man denn fürs Winterbaden einen VHS-Kurs buchen – der See fragt schließlich nicht nach Badelizenzen. Brauns weiß aus vielen Interviews, dass die Überwindung in der Gruppe leichter wird. Und zudem gibt es ein Gefühl der Sicherheit, wenn jeweils ein Bade-Pärchen aufeinander aufpasst.
Nachdem die Schmerzgrenze nach zwei Minuten durchschritten ist, beginnt also das Gruppenerlebnis: Die Badenden schwimmen etwa vier Minuten lang und verlassen dann das Wasser – selbstverständlich vollzählig. Es folgt: Glück, wie es pharmazeutisch nicht herstellbar zu sein scheint. Nach dem Anziehen und einem kleinen Warmup kommt dann unvermeidlich, das erzählt Brauns mit einer gewissen Zurückhaltung, das große Zittern. Das ist wohl der Preis fürs große Glücksempfinden.
Wer hat nun Angst vor dem kalten Grausen? Niemand bekennt sich im Teilnehmerkreis zu diesem Gefühl. Hier offenbart sich die segensreiche Gruppendynamik: In der Gemeinschaft scheint es keine so große Überwindung mehr zu sein, in den Ammersee, oder ist der Jammersee? zu steigen. Die Entscheidung, ob man wirklich ins Wasser geht, so Brauns, fällt nicht am Strand, sondern schon zu Hause. Der Kursleiter erzählte von einer früheren Teilnehmerin, die verwundert fragte, warum denn niemand beim Wasserkontakt schreie. „Alle sind ruhig und konzentriert, alle gehen mit größtmöglichem Selbstverständnis ins Wasser.“
Manche Herrschinger Allwetterschwimmer gehen frühmorgens in den See, um sich die Dusche zu sparen oder gleich mal richtig wach zu werden. Brauns rät davon ab. „Etwa vier Stunden nach dem Bad stellt sich eine wohlige Müdigkeit ein, und die will man ja nicht während der Arbeitszeit haben“, weiß Brauns.
Wer seinem Körper, seiner Überwindungsfähigkeit oder den Erzählungen nicht traut, der darf gerne eine Wollmütze aufsetzen, Füßlinge und Handschuhe tragen. Ja, sogar ein Neoprenanzug ist nicht verpönt, wenngleich der Heldenstatus dabei angekratzt wird.
Am nächsten Montag, 16 Uhr, also geht Brauns Badebande das erste Mal gemeinsam ins Wasser. Mal sehen, ob dann immer noch zehn wackere Frosttrotzer am Start sind.



