Wahlrecht ab 16 – eine gute Idee? Herrschinger Jugendlichentherapeutin erklärt, warum junge Männer eher rechts wählen als junge Frauen///
Die Breitbrunner Kinder- und Jugendlichentherapeutin Susanne Mergen glaubt, dass rechte Gesinnungen bei Erstwählern einer tiefen Verunsicherung entspringen. Vor allem bei jungen Männern vermutet sie ein Bedürfnis nach Sicherheit – und eine Ablehnung gegen Veränderungen des Rollenverhaltens. Mergen, selbst Mutter zweier Kinder, verteidigt das vorgezogene Wahlrecht ab 16. Auch wenn 16 Prozent von ihnen AfD gewählt haben sollten. Die Therapeutin mit eigener Praxis ist sich sicher, dass die Jugend wieder politischer geworden ist, weil die Klimakrise ihre Zukunft bedroht.

herrsching.online: Zum ersten Mal dürfen 16-Jährige bei einer bundesdeutschen Wahl abstimmen. Eine gute Idee?
Mergen: Ja. Ich finde es gut, wenn Jugendliche in die Verantwortung gehen. Das ist mit Blick auf die Entwicklung der Gesellschaft wichtig, weil heute kaum noch jemand Verantwortung für irgendwas übernehmen möchte. Das Thema „Verantwortung übernehmen“ ist in unserer Gesellschaft nicht gut abgedeckt.
herrsching.online… in der ganzen Gesellschaft oder vorzugsweise unter Jugendlichen?
Mergen: In der ganzen Gesellschaft. Die Jugendlichen muss man ernst nehmen, das fordern sie ja auch ein. Mit dem Wahlrecht werden sie ernstgenommen und es wird ihnen auch Verantwortung übergeben. Für problematisch halte ich dabei allerdings, dass die politische Bildung überwiegend von Social Media übernommen wird.
herrsching.online: Ist das auch ein Grund, dass junge Männer eher rechts wählen, während Mädchen und junge Frauen eher grün oder links wählen? Das haben große, seriöse Untersuchungen herausgefunden.
Mergen: Ich kenne die Studien nicht, aber mein Bauch sagt mir, dass die jungen Männer vielleicht mehr zu verlieren haben, nämlich zum Beispiel Macht. Und die Frauen haben weniger Macht, deshalb sind sie möglicherweise stärker fokussiert auf Gleichberechtigung, gleiche Bezahlung von Mann und Frau und ähnliche Themen. Die Männer wiederum sind interessiert daran, dass sich nicht so viel ändert.
herrsching.online: Kehrt der Machismo, den viele als überwunden glaubten, zurück?
Mergen: Ich glaube nicht, dass das männliche Weltbild, also das Patriarchat, zurückkommt. Wenn ich mir jugendliche Verhaltensweisen ansehe in meiner Praxis und im Alltag, dann sehe ich da keine Anzeichen, dass übertriebene Männlichkeit wieder zum Leitbild wird. Die Ursache dafür, dass junge Männer eher nach rechts tendieren, resultiert meiner Meinung nach aus einer riesigen Unsicherheit. Aber die sehe ich eigentlich bei allen Jugendlichen. Die Hauptursache dafür ist die Pandemie. Die Jugend konnte sich in den Jahren der Isolation nicht einfach uneingeschränkt weiterentwickeln. Möglicherweise, aber das ist Spekulation, entspringt daraus ein Bedürfnis nach Sicherheit, das vor allem junge Männer vielleicht bei Politikerinnen und Politkern vermuten, die Führung übernehmen und nicht groß diskutieren und verhandeln.
herrsching.online: Der Krah, den seine Partei noch vor der Wahl verschwinden ließ, hat das ja in seinen Videos thematisiert. „Echte Männer sind rechts…dann klappt’s auch mit der Freundin“, krähte er in sein Handy. Kommen solche Töne an bei Jungs?
Mergen: Ich würde vermuten, dass die meisten jungen Männer das bescheuert finden. Manche springen aber möglicherweise auch an bei solchen Statements, weil sich das nach Sicherheit anhört.
herrsching.online: Hängt es vom Bildungsniveau oder von der Prägung durch das Elternhaus ab, wie ein junger Mensch auf solche Verführer reagiert?
Mergen: Das hängt meiner Meinung nach vor allem von der Peergroup ab, also der sozialen Gruppe von Gleichaltrigen, gleichartigen oder gleichgesinnten Jugendlichen. Früher hätte man wohl Clique dazu gesagt. Meine Vermutung aber geht dahin, dass solche Gesinnungen in allen sozialen Schichten vorkommen.
herrsching.online: Ja, das wird auch in der sogenannten „Mitte“-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung bestätigt. So haben die Soziologen bei 29 Prozent der Befragten völkisch-autoritär-rebellische Positionen herausgefunden.
Mergen: Ich glaube wie gesagt, dass solche Positionen in allen gesellschaftlichen Schichten vertreten sind. Welchen politischen Leitbildern oder Parolen Jugendliche anhängen, ist wie erwähnt von sogenannten Peergroups abhängig. Wenn einer in der einen Freundesgruppe schreit, die AfD sei toll, dann folgen ihm seine Gruppenmitglieder möglicherweise. Wenn sich ein Jugendlicher zum Beipiel in einer Gruppe bewegt, in der es queere oder Transgender-Menschen gibt, sind solche Sprüche ein absolutes No Go.
herrsching.online: Sind Jugendliche heute unpolitischer als früher?
Mergen: Sie werden gerade wieder politischer…
herrsching.online… politisiert durch was?
Mergen: … durch die Klimakrise. Das hängt vor allem mit der Fridays for Future-Bewegung zusammen, bei der die Schüler gelernt haben, dass sie etwas bewegen können: Wir sind eine Menge, eine Masse, wir können etwas bewegen. Vor 5, 6, 7 Jahren, das ist meine Wahrnehmung, war die Jugend unpolitischer. Eben wegen der Klimakrise mag dann auch eine Sehnsucht nach Klarheit und Führung dazukommen.
herrsching.online: Also eine Vermischung von ökologischen Forderungen mit einer autoritären Führung? Dass Jugendliche möglicherweise heute anfälliger sind für solche Gedanken, könnte auch durch den Medienkonsum verursacht werden. Ein Professor erzählte kürzlich im Spiegel, dass sich seine Studentinnen und Studenten über das Tagesgeschehen durch Instagram und TikTok informieren.
Mergen: Genau deshalb ist es aus meiner Sicht total fahrlässig von den sogenannten etablierten Parteien, diese Medien nicht zu nutzen. Nur weil wir Erwachsenen mit klassischen Medien wie Spiegel oder SZ sozialisiert wurden, sollten wir die neuen Medien nicht ignorieren. Das wäre fatal und nicht geschickt.
herrsching.online: Ganz anderes Thema. Der AfD-Krah suggerierte in seinen Posts, dass junge Männer Schwierigkeiten haben, eine Freundin zu finden. Ist das so?
Mergen: Nicht nur junge Männer, auch junge Mädchen finden wegen der Pandemie schwerer einen Partner. In der Pandemie hatten sie 3 Jahre lang keine Möglichkeit, Partnersuche zu lernen und zu üben. Und Dating Apps tragen dazu bei, dass viele Jugendliche auf Partys verlernt haben, andere anzusprechen. Und die leicht zugänglichen Porno-Angebote im Internet sind ein Problem, weil jungen Menschen vermeintlich Sexualität frei Haus angeboten wird, die mit der Realität nichts zu tun hat. Wenn man das angeboten bekommt, ohne dass man selbst aktiv werden muss, dann wird das halt konsumiert. Gelegenheit macht Diebe, in diesem Fall leider nicht – Liebe. Das verstellt dann auch den Weg des Selber-Ausprobierens.
Danke für das informative und reflektierte Interview. Obwohl ich nicht jung bin, sondern am anderen Ende des Lebens, habe ich mich seit einiger Zeit von den Printmedien verabschiedet. Ich lese und kommentiere jetzt auch mehr online und quer vergleichend durch die Zeitungslandschaft. Jugendliche wollten immer schon in ihrer Peergroup untereinander bleiben, abgeschottet ihre Freiräume genießen. Aber, sie haben recht, früher bewegten wir uns als Jugendliche in der realen Welt, auf den Straßen, in der Natur oder in Musik-und Sportvereinen und machten reale Erfahrungen. Heute verbringen unsere Kinder und Jugendlichen zu viel Zeit in Parallelwelten, geschlossenen Chats und virtuellen Spielen. Vielleicht fehlt nur die Balance?!