Soweit die Speichen tragen: Ruth Pauligs Akku-Renner kennt jetzt den Weg nach Prag.

Noch nicht auf Insta: das Tausend-Sterne-Hotel in Prag

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Ein bisschen verrückt, aber mutig, formstark, neugierig und unternehmungslustig – eben alles, was Deutschland sein sollte, bewies eine Frau im Fahrradsattel. Sie ist mit 76 nicht mehr die Jüngste und hätte genug Geld für eine Schiffskreuzfahrt. Aber sie sattelt ihren roten Kettenferrrari, schlägt sich über verschlungene Pfade durchs Nachbarland Tschechien, übernachtet im Zelt und schläft in Prag auf einer Moldaubrücke: Die Breitbrunnerin Ruth Paulig, schon im bayerischen Landtag für starke Auftritte gut, ist ein wunderbares Beispiel für Crazy & Gray. Wobei das natürlich falsch ist: Paulig hat einen feuerroten Schopf, und darunter steckt immer noch der Geist einer Pionierin.

Wie viele große Dinge entstand der Plan aus einer ungestillten Lust auf Neues: Die ehemalige Fraktionsvorsitzende der Grünen im Landtag hatte keinen Enkeldienst, alle waren im Urlaub, und es tat sich ein kleines Zeitfenster auf, das frische Luft versprach. Moldau und Prag, das versprach Abenteuer. Dass das Abenteuer schon mit der deutschen Bahn begann, war unvermeidlich – von Herrsching nach Passau mit der Bahn in acht Stunden, die Postkutschen von Thurn und Taxis hatten auch nicht viel länger gebraucht. Nachmittags um drei endlich schwang sich Paulig dann in Passau in den Sattel und arbeitete sich über die Buckel des Bayerischen Waldes nach Tschechien vor, wo am Lipno Stausee (Jihočeské moře zu deutsch: Südböhmisches Meer) die Handy-Kamera schon mal zur Hochform auflief. Und in Český Krumlov gab’s schon den nächsten nächsten Hingucker – eine Welt-Kultur-Erbe -Stadt mit einem barocken Schlosstheater, bei dem ohne Unterbrechung 17 Bühnenbilder gewechselt werden können.

Aus diesem Kraftwerk hat Ruth Paulig vermutlich den „Sprit“ bezogen: Das berüchtigte Atomkraftwerk Temelin im Hintergrund.

Die Moldau schlängelt sich durch die gebirgige Landschaft, oft tief eingeschnitten und teilweise so wild, dass Wildwasserrennen ausgetragen werden. „Wenn man zum Fluss runter fährt, schont man den Fahrrad-Akku, wenn man den Fluss dann wieder verlässt und hochstrampelt, ist der Akku halb leer“, lacht Paulig. Aber Hilfe ist nie fern, in Restaurants wurden die Batterien von Fahrerin und Fahrrad gerne wieder aufgefüllt. Mit der Küche freilich fremdelte Paulig: Die herzhafte böhmische Küche ist nicht so ihr Ding, die tschechischen Akku-Watts dagegen vertrug ihr Speichenpferd bestens, obwohl viel Strom in Tschechien aus AKWs stammt. Das hat die Grünen-Mitbegründerin Paulig wohl verdrängt.

Die Campingplätze kosten etwa 20 Euro pro Nacht und Zelt. „Die Tschechen campen gerne“, freute sich Paulig, und überall kamen nette Gespräche auf Englisch zustande.

In Prag dagegen, einer der beliebtesten Hauptstädte Europas, war die Auswahl an Übernachtungsalternativen dürftig. Die Pensionen, die sie abklapperte auf der Suche nach einem Zimmer, waren ob ihres Optimismus‘ „völlig entgeistert“. Da sah sie eine kleine, holzbeplankte Fußgängerbrücke über die Moldau mit kunstvollem schmiedeeisernem Geländer. „Ich hab mir zuerst die Leute angeguckt, die da drübergingen, dann hab ich mich einfach auf die Brücke gesetzt, bin müde geworden, habe meine Isomatte ausgerollt und noch schnell mit der Bundesbahn-App eine Fahrkarte nach München gekauft. Und schließlich wurden die Augen schwer. Bevor ich eingeschlafen bin, hab ich den Wecker auf vier gestellt, weil der Zug nach München um 5.35 Uhr fuhr.

Kann es einen romantischeren Ort zum Schlafen geben? Die Fußgängerbrücke über die Moldau diente Ruth Paulig als kurzes Nachtlager.

Irgendwann fragte eine Frau, wohl eine mit migrantischem Hintergrund, nach meinem Wohlbefinden, ein Mann leuchtete mir mit der Taschenlampe ins Gesicht. Ich hab dann einfach den Anorak über den Kopf gezogen und bin eingeschlafen.“ Um drei ist sie dann aufgewacht und wieder losgeradelt. „Ich habe tatsächlich mitten in der Nacht eine Frau gefunden, die mir präzise auf Englisch beschrieb, wie ich zum Bahnhof komme.“  Und endlich auf dem Wenzelsplatz, war der Weg zum herrlichen Jugendstil-Bahnhof nicht mehr schwierig. Dort halfen ihr freundliche Menschen, ihren 25-Kilo-Muli in den „Alex“-Waggon zu stemmen. „Bis Furth im Walde war der Zug auf die Minute pünktlich, erst in Deutschland sammelte er dann die Verspätungen ein.“ Und nass wurde Paulig auch erst auf dem Heimweg vom Herrsching nach Breitbrunn – 465 Kilometer ohne Regen.

Es gibt Millionen Menschen in Europa, die in diesem Sommer 500 Kilometer auf dem Rad zurückgelegt haben. Aber wenige darunter waren 76 Jahre alt, und sehr wenige hatten ein so exklusives „Bett“ auf einer Brücke.

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