Genau acht Tage vor Heilig Abend stand die Welt kopf für Dr. Mario Kossmann und seine Frau Virginie: Sein Arbeitgeber Lilium hatte kein Geld mehr, Hunderte von Lilium-Mitarbeitern standen am Montag in einer Schlange beim Arbeitsamt Starnberg. Der 55-jährige Herrschinger mit einem Master in Luft- und Raumfahrttechnik und einem Doktor in „Requirements Engineering“ steht nun selbst beim Arbeitsamt an. Als letzten Dienst für seine ausländischen Kollegen übersetzt er deutsche Amtssprache ins Englische. Und trotzdem glaubt er an die Botschaft, die von der Krippe hinter ihnen in der Nikolauskirche (siehe Bild oben) ausgeht: „Wir dürfen die Hoffnung nie aufgeben.“ Kossmann ist im Nebenberuf katholischer Diakon in der Ammersee-Ost-Gemeinde. Sein persönliches Credo: Die Menschen durch das eigene Vorbild überzeugen. Eine fast heldenhafte Aufgabe, diese Vorbildfunktion auch am Arbeitsplatz in der Industrie zu leben. Wieviele Möglichkeiten gäbe es im Job, christliche Ideale zu verleugnen: Kollegen-Mobbing, Intrigen, Ellenbogen auf der Karriereleiter einsetzen – alles verboten für einen Mann Gottes, der auch im Beruf seine Ideale leben will. „Ich finde diese Doppelrolle spannend“, sagt Kossmann. Er könnte nun sein Heil bei Mutter Kirche als festangestellter Diakon suchen. Doch das lehnt er ab: „ Ich würde nicht Teil der Amtskirche sein wollen.“
Neueste Meldung zu Lilium an den Weihnachtsfeiertagen: Nach neuesten Zeitungsmeldungen hat sich ein Investor für Lilium gefunden, der die am Freitag vor Weihnachten entlassenen 750 Mitarbeiter wieder einstellen will. Die Mitarbeiter, darunter Dr. Kossmann, die fünf Tage zuvor entlassen worden waren, werden dagegen wohl ihren Arbeitsplatz verlieren. Mario Kossmann dazu: „Was für eine emotionale Achterbahnfahrt.“
herrsching.online: Ihr Leben ist so spannend wie Ihr Spiel (siehe Kasten eXplore): Sie haben bei Lilium an der Entwicklung eines elektrischen Flugtaxis gearbeitet und sind in der katholischen Ammersee-Ost-Gemeinde als ehrenamtlicher Diakon tätig. Nachdem das Lilium-Projekt wohl gescheitert ist und Ihr Arbeitsplatz im Insolvenzverfahren wegfiel, brach auch eine Säule Ihres Lebensentwurfs weg. Ist diese Dualität nun endgültig gescheitert?
Kossmann: Bei Lilium haben Menschen aus der ganzen Welt gearbeitet, und das ist eine unschätzbar wertvolle Erfahrung für uns alle gewesen. Gescheitert würde ich deshalb nicht sagen. Wir lassen uns leiten, und wo wir Arbeit finden, nehmen wir sie an. Im Arbeitsumfeld muss man ja versuchen, die christlichen Werte auch wirklich zu leben. Und das macht einen großen Unterschied. Es macht generell mehr Spaß in der Arbeit, die Leute respektieren sich mehr, sie helfen sich mehr, wenn sie das nicht ohnehin schon in ihrer Natur haben. Die Leute denken um und empfinden den Büroalltag nicht mehr als schrecklich.
herrsching.online: Wie lebt man christliche Werte an seinem Arbeitsplatz – man intrigiert nicht, man lügt nicht, man betrügt nicht?
Kossmann: Genau. Und sehr wichtig ist auch, dass man jeden, egal welche hierarchische Rolle er spielt, ernst nimmt. Zuhört. Und auf Augenhöhe mit den Leuten redet.
Seine dritte Berufung: Ethische Spiele entwickeln
Seit Corona arbeitet die ganze Familie Kossmann am Indie-Game eXplore, das den Gamern ethische Werte vermitteln soll und gleichzeitig vielen „hochmotivierten und begabten Menschen“ helfen soll, in der Spielebranche Fuß zu fassen. Mario Kossmann fasst die Idee von eXplore so zusammen:
„Wir lieben unseren wunderbaren Planeten Erde und alles, was auf ihm lebt. Mit unseren Spielen wollen wir diese schöne, vielfältige Welt zu einem besseren Ort für alle machen. Dies tun wir, indem wir bedeutungsvolle Spiele entwickeln, wahre Kunstwerke, die die Perspektive der Menschen verändern und sie zum Nachdenken anregen. Wir helfen hochmotivierten und begabten Menschen von überall her, damit sie in der Spielebranche Fuß fassen, Spaß haben und Erfolg haben können.
Wir bauen Brücken über alle Grenzen hinweg, die uns Menschen voneinander trennen, indem wir uns aktiv in der weltweiten Gaming-Community engagieren.“
herrsching.online: Was haben Sie bei Lilium gemacht?
Kossmann: Ich habe mich um die integrierte Sicherheit und die Produktqualität gekümmert. Integrierte Sicherheit beinhaltet Aviation Safety, Arbeits- und Umweltschutz, Cyber Security, Physical Security und auch Krisen-Management als Sicherheitsnetz, wenn mal etwas Schlimmes passieren sollte. Ich habe mit all diesen Bereichen zusammengearbeitet. Wenn man etwas sieht, was in der Firma nicht in Ordnung ist, dann muss man den Mut aufbringen und die Missstände angehen beziehungsweise melden.
herrsching.online: Macht einen sehr beliebt bei den Kollegen…
Kossmann: Man muss eine faire und gerechte Kultur aufbauen, in der niemand dafür bestraft wird, dass man Probleme anspricht. Die meisten Leute wollen ja auch, dass Fehler entdeckt werden. Und man hat ja auch bei Boeing gesehen, was passieren kann, wenn die Sicherheitskultur nicht in Ordnung ist. Das war eine Kultur, in der Leute Angst hatten, über Probleme zu reden. Und wenn man nicht darüber spricht, kann man Probleme auch nicht angehen und lösen.
herrsching.online: Wussten Ihre Kollegen von Ihrem religiösen Hintergrund und Ihrem Dienst als Diakon?
Kossmann: Teilweise ja, aber ich gehe damit auch in der Firma nicht ständig hausieren. Vielmehr versuche ich, so gut ich kann, die christlichen Werte auch in der Arbeit vorzuleben. Das schaff ich natürlich nicht immer, aber ich versuche es.
herrsching.online: Erzeugt diese zutiefst menschliche Haltung nicht auch mal Aggressionen bei Menschen, die keine so hohen sozialen Standards haben?
„Bei Lilium hat mich die Diversität von wunderbaren Menschen aus der ganzen Welt beeindruckt“
Kossmann: Bei der Firma Lilium hat mich die Diversität von wunderbaren Menschen aus der ganzen Welt am meisten beeindruckt. Ich hatte das Privileg, mit jedem in Kontakt zu kommen, weil ich auch viele Schulungen gemacht habe. Man konnte so leben und arbeiten, wie man wirklich war, ohne sich verstecken zu müssen. Peinlich war nur, dass dadurch alle meinen Namen kannten, aber ich mir leider nicht alle Namen merken konnte.
herrsching.online: Sind Sie eigentlich – es wäre wohl eine allzu menschliche Reaktion – sauer auf Menschen und Institutionen, die es mit Lilium nicht so gut gemeint haben?
Kossmann: Erstens weiß ich ja nicht genau, was da gelaufen ist. Weil ich nicht involviert war in wirtschaftliche Entscheidungsprozesse, kann nichts dazu sagen. Ich hätte mir gewünscht, dass man in der Politik etwas mehr Visionen gehabt hätte. Hätten vor der Gründung von Airbus Politiker keine Visionen gehabt, dann gäbe es heute kein Airbus-Unternehmen. Neue Technologien muss man fördern, sonst kommen die gar nicht erst hoch.
herrsching.online: Ist Deutschland mit dieser Ängstlichkeit und Knausrigkeit noch zu retten?
Kossmann: Es gibt viele gute Politiker, die das Richtige tun wollen. Deshalb habe ich immer noch Hoffnung. Aber wir müssen wirklich in die Gänge kommen.
herrsching.online: Hätten Sie nun, nachdem der Job bei Lilium weg ist, die Möglichkeit, mit Sold als Diakon in der Kirche zu arbeiten?
„Ich bin für eine Kirche, die auf Spenden basiert“
Kossmann: Die Möglichkeit gäbe es schon, aber für mich persönlich ist dieser Weg eher keine Alternative. Ich bin eher für ein Modell für die Kirche, das auf Spenden basiert ist, und wo wir im Leben stehen, da wo wir berufen sind. Ich finde es zwar richtig und gut, dass einige Leute in der Kirche vollzeit arbeiten und auch dafür bezahlt werden. Ich selber sehe mich allerdings mehr dazu berufen, auch in einem Arbeitsumfeld tätig zu sein, in dem ich meine Talente nutzen kann und in das die Kirche nicht so einfach hineinkommt. Ich persönlich würde also nicht Teil der Amtskirche sein wollen.
herrsching.online: Sie unterstützen auch Maria 2.0 und arbeiten an der einen oder anderen Initiative mit, das ist so eine Art kirchlicher Erneuerungsbewegung, in der Politik würde man es als Opposition bezeichnen. Haben Sie denn noch Hoffnung, dass sich die Kirche erneuern kann?
Kossmann: Wir dürfen nie die Hoffnung aufgeben! Vieles, was wir im Leben machen und bewegen, erreicht Menschen, ohne dass wir das überhaupt mitkriegen. Das ist so, wie wenn man einen Stein ins Wasser wirft, und die Wellen gehen in alle Richtungen, ohne dass wir das richtig mitbekommen. Wenn wir nur hin und wieder ein paar Leute dazu bringen, dass sie nachdenken, dann ist das schon gut.
herrsching.online: Leben wir noch so lange, dass wir kirchliche Erneuerungen als Zeitzeugen mitkriegen?
„Wir halten an falschen Dingen fest“
Kossmann: Ich bin manchmal schon frustriert, weil ich das gerne noch meinen Lebzeiten hätte. Einige Dinge müssen wir nun einfach umsetzen. Und wir müssen die Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, die wir bei vielen Leuten verloren haben, weil wir an falschen Dingen festhalten, uns auf falsche Dinge konzentrieren.
herrsching.online: Auf was genau?
Kossmann: Dass wir uns nicht auf Jesus konzentrieren, sondern auf unsere Regeln, die wir irgendwann einmal aufgestellt haben. Dass wir festhalten an Unrecht und Diskriminierung. Und wenn der liebe Gott eine Frau oder einen Homosexuellen inspiriert, ein Amt zu bekleiden, dann ist das so. Dann sind wir als Kirche doch nicht dazu aufgerufen, uns dem in den Weg zu stellen, sondern wir müssen das unterstützen.
herrsching.online: Ist die Kirche mitunter nicht genau das, was Jesus den Pharisäern vorwirft?
Kossmann: Leider scheint es oft so. Wir haben Tausende von Regeln und Lehrpositionen aufgestellt, die im Gegensatz zur Lehre Jesu stehen. Ich verstehe inzwischen einige heilige Einsiedler besser, die sich in eine Höhle zurückgezogen haben.