Es war ein Hochamt der Nostalgie: Die gute alte DIESSEN, das schwimmende Denkmal aus der Kaiserzeit, stand noch einmal unter Dampf. Also nicht wirklich, sondern in Gestalt eines Schiffsmodells im Maßstab 1:20. Und mit einem Zeitdokument aus der Super-8-Kamera von Hans Ulrich Greimel. Der Breitbrunner Bauunternehmer hatte die letzte Fahrt des Dampfers (im Wortsinn) am 10. November 1974 mit seiner Filmkamera begleitet. Und Heimatforscher Robert Volkmann verband diesen Gedenktag aus Anlass der letzten Dampferfahrt vor genau 50 Jahren mit der Vorstellung seines neue Buches Weitere Geschichte(n) aus Breitbrunn vom See und aus der Nachbarschaft. Wen wundert’s, dass dem Bürgersaal in Breitbrunn am Samstag die Stühle ausgegangen sind – der Raum war überfüllt wie die gute alte DIESSEN auf ihrem Weg in eine neue Zeit.

Allein die Schaufeln des DIESSEN-Modells bestehen aus 447 Einzelteilen, der Fußboden des Schiffssalons ist wie beim großen Vorbild mit Parkett ausgelegt, der Dampfkessel mit der zweizylindrischen Maschine bildet bei der großen und der kleinen DIESSEN das Herzstück des Antriebs. Gebaut hat es der Breitbrunner Andreas Heene. Das 17 Kilo schwere Modell entstand noch in der Schüler- und frühen Studentenzeit des angehenden Architekten. Die Arbeit an der kleinen DIESSEN war, so sah es Heenes weitsichtige Mutter, eine Konkurrenzveranstaltung zur Abitur-Vorbereitung des Gymnasiasten Andreas. Sie musste hart durchgreifen („50 Prozent der Kindererziehung sind Erpressung, 50 Prozent Nötigung“, soll sie einmal gesagt haben), damit die akademische Laufbahn des Buben nicht in die Schaufelräder des Schifffsmodells geriet.
Die Liebe zum winzigsten Detail war Heene wohl schon in die Wiege gelegt. Damit alles, aber auch wirklich alles an dem Modell dem Vorbild entsprach, vermaß er die alte DIESSEN penibel wie ein Archäologe ein Skelett. Der „Herr Jakob“ von der Schifffahrtsverwaltung hatte für den jungen Mann extra das Schiff aufgesperrt, damit der stundenlang im Rumpf die Nieten zählen, die Kolben vermessen, die Einrichtung fotografieren konnte.
Weil der junge Heene fürchtete, dass seine Modell-Dampfmaschine nicht genug Power für das 17 Kilo schwere Schiff liefert, ließ er sich von seinem Physik-Nachhilfelehrer die PS-Zahl ausrechnen, es kam eine Zahl im Kommabereich raus. Gigantisch dagegen war der Arbeitsaufwand – 3000 Arbeitsstunden kamen zusammen, bis das Modell auf dem Ammersee – ferngesteuert – seine Jungfernfahrt machte. „Sogar das Wellenbild, das der Rumpf auf dem Wasser bildet, entspricht dem des Vorbildes“, erzählte Heene seinen staunenden Zuhörerinnen und Zuhörern im Bürgersaal. Die alte DIESSEN mit ihrer Zweizylinder-Verbunddampfmaschine leistete 230 PS, mit denen sie die 400 Passagiere auf dem Ammersee bewegte.
Der historische Raddampfer aus der Kaiserzeit war 34 Meter lang und 9,40 Meter breit. Er verabschiedete sich übrigens drei Jahre früher von seinem Dampfkessel als die letzte Dampflok Deutschlands – die wurde im Oktober 1977 außer Dienst gestellt (DB-Werbung damals: „Die Bahn hat sich das Rauchen abgewöhnt“).
Aus war’s mit der Nostalgie: „Von der alten Faszination des kohlebetriebenen Antriebs ist leider wenig geblieben“, klagte der Dampfer-Fan Carl Asmus in einem Film – die Dampfmaschine der DIESSEN wurde 1975 durch einen Dieselmotor ersetzt, ein unentschuldbarer Frevel für die Freunde des rauchenden Schornsteins. Die nächste Schändung des schwimmenden Denkmals geschah in den Jahren 2005/06: Der Kaiserdampfer wurde auseinandergeschnitten, auf 14 Meter verbreitert und auf 49 Meter verlängert. Ist das nun noch eine geborene DIESSEN, die damals von der Münchner Firma Maffei gebaut worden war, oder ist das ein neues Schiff, lediglich mit einigen Konstruktions-Zitaten versehen?
Falls nun Wehmut aufkommt – wir haben ja noch das wunderbare Modell von Andreas Heene, das allerdings in seinem Haus zwischen Wohn- und Esszimmer steht. Wie schön wäre es, wenn dieses Meisterwerk der detailgetreuen Handwerkskunst im Rathaus oder im Kurparkschlösschen stünde?
Durch die kurzweiligen zwei Stunden im Bürgersaal führte der Heimatforscher und Buchautor Robert Volkmann. Der pensionierte Gymnasiallehrer hat in einem „Nachlader“ zu seinem Standardwerk „Heimatbuch Breitbrunn“ dem Dorf und seiner Nachbarschaft weitere 144 Seiten gewidmet. Der literarische Streifzug reicht vom König Ludwig dem Ersten über Schulgründer Franz Utz, dem geschützten Landschaftsbestandteil Jaudesberg, dem Sieg über den Funkmasten, der Fracht- und Schleppschiffahrt am See, dem Tornado-Schnitzer Herbert Glas, dem Ammersee als Schießstätte der Reichsluftwaffe und dem Schloss Ried als Herberge der dramatischen Zeitgeschichte. Volkmann gelingen mit seiner obsessiven Lust an der Recherche und seinem feinsinnigen Humor immer wieder Bücher, die mit heimattümmelnden Fibeln nichts gemein haben (herrsching.online stellt das Buch in einer Rezension ausführlich vor).