Über was bitte sollen wir abstimmen, fragen sich viele Herrschinger Bürger, wenn die Briefwahlunterlagen zur Frage „Baumschutzverordnung ja oder nein?„ auf dem Tisch liegen: Welche Bäume sind betroffen, was kostet gesetzlich organisierter Schutz des grünen Dachs von Herrsching? Der Bürgermeister und der Verwaltungschef haben im Artikel einer Lokalzeitung alle Argumente gegen eine Verordnung aufgetischt – obwohl sich die Gemeinde zu politischer Neutralität verpflichtet hatte. Eigentlich ist es guter Brauch, dass die Kommune bei einem Bürgerentscheid das Für und Wider neutral darstellt. Weil das aber nicht geschehen ist, holt herrsching.online nun die inhaltliche Auseinandersetzung nach. Der ehemalige Bundespolizei-Kommissar Norbert Wittmann, einer der Sprecher von Pro Natur, hat sich mit den Einlassungen des Bürgermeisters beschäftigt. Hier seine wichtigsten Thesen:
• Neutralitätspflicht: „Äußerungen des Bürgermeisters stehen im Widerspruch zu Aussage auf der Website der Gemeinde“
• „Es mangelt bei einigen Verantwortlichen in Herrsching am politischen Gestaltungswillen“
• „Eine Baumschutzverordnung in Herrsching würde 11 Stunden Verwaltungsarbeit im Monat bedeuten“
• „Kommunalaufsicht: Landratsamt lag keine Baumschutzverordnung von 2013 vor“
herrsching.online: Bevor wir uns im Verwaltungsdickicht verlieren: Was könnte denn eine Baumschutzverordnung leisten, Herr Wittmann?

Wittmann: Kommunen mit wenig „Stadtgrün“ sind schlechter gewappnet gegen extreme Wetterphänomene. Starkregen fließt schlechter ab, die Innenstädte heizen schneller auf. Gemeinden mit Verantwortungsbewusstsein nehmen die komplexe Problematik zunehmend wahr und versuchen, Lösungen zu finden. Im Rahmen der kommunalen Planungshoheit werden Ziele für Klimaschutz und -anpassung in die vorhandenen Planungsinstrumente des Ortsrechts integriert. Bauleitplanung, Baumschutzverordnung, Stellplatzsatzung und Freiflächengestaltungssatzung sind Instrumentarien, die den Gemeinden umfassende Möglichkeiten und Potenzial bieten, Klimaschutz und Anpassungen an den Klimawandel zu berücksichtigen. Auch hier hat die Gemeinde Herrsching Nachholbedarf, es mangelt bei einigen Verantwortlichen am politischen Gestaltungswillen.
Verhält sich die Gemeinde neutral?
herrsching.online: Die Gemeindeverwaltung behauptet, dass sie sich neutral verhält beim Bürgerentscheid Baumschutzverordnung. Nun hat sie in einem großen Artikel in einer Lokalzeitung in 4 Spalten dargelegt, warum eine Baumschutzverordnung nicht sinnvoll oder gar unnötig sei. Zeugt diese Haltung von Neutralität?
Wittmann: Die Äußerungen des Herrschinger Bürgermeisters und seines Geschäftsleiters in einer Lokalzeitung stehen durchaus im Widerspruch zu der Aussage auf der Website der Gemeinde Herrsching, wonach die Gemeindeverwaltung keinen Einfluss auf die Fragestellung des Bürgerentscheides hat und dass sie sich zu dieser Entscheidung politisch neutral verhalten muss.
2022 gab es in Bayern 94 Bürgerentscheide, also basisdemokratische Abstimmungen der wahlberechtigten Bürger. Davon waren 64 Bürgerbegehren, die von einer Bürgergruppe beantragt wurden, und 30 Ratsbegehren, die der Gemeinderat eingeleitet hatte. Bei nahezu allen Verfahren gab die Kommune eine Bürgerinformation in Form einer Broschüre oder eines Flyers heraus. In der Bürgerinformation werden jeweils im gleichen Umfang die unterschiedlichen Auffassungen kurz und sachlich dargelegt. Hier hat auch der Bürgermeister das Recht, seine Meinung bezüglich des Bürgerentscheids darzulegen. Die Herrschinger Bürgerbegehrenssatzung vom 18.Dezember 2018 erscheint bezüglich der Benachrichtigung und Unterrichtung der Stimmberechtigten nach meiner Auffassung verbesserungswürdig.
Was war falsch an der alten Baumschutzverordnung?
herrsching.online: Warum wurde die Baumschutzverordnung 2018 wirklich aufgehoben? Der Geschäftsführer der Gemeinde, Finster, behauptet, dass die Kommunalaufsicht gesagt hätte, die Satzung sei nicht vollziehbar. Und der Bürgermeister behauptet, dass die Satzung vor Gericht nicht haltbar gewesen sei. Was hatte die Kommunalaufsicht wirklich zu bemängeln?
Wittmann: Die Baumschutzverordnung der Gemeinde Herrsching wurde in der Gemeinderatssitzung vom 12.November 2018 aufgehoben. Die Begründung in der diesbezüglichen Sitzungsvorlage liegt mir leider nicht vor.
Zur Klärung trägt das erwähnte Schreiben der Kommunalaufsicht im Landratsamt bei. Darin werden einige Passagen der damaligen Baumschutzverordnung rechtlich beanstandet. Die Kommunalaufsicht stellte weiterhin fest, dass dem Landratsamt keine Ausfertigung der Baumschutzverordnung von 2013 vorlag. Ferner wurde gerügt, dass eine Anlage keinen Ausfertigungsvermerk trug. Darüber hinaus wurde angemerkt, dass Satzungen und Verordnungen mit dem Ausfertigungsdatum zu zitieren sind und nicht mit dem Datum des Gemeinderatsbeschlusses.
Letztendlich kam die Kommunalaufsicht zu der Bewertung: „Bei fehlender Ausfertigung einer Anlage zur Baumschutzverordnung 2013 wäre daher die Verordnung inklusive der Änderungsverordnung vom 13. November 2017 als nichtig zu beurteilen“.
Wieviel Arbeitsaufwand erfordert eine Baumschutzverordnung?
herrsching.online: Hört sich für uns eher nach Versäumnissen seitens der Verwaltung an. Immer wieder hört man, dass eine Baumschutzverordnung und ihre Durchsetzung einen großen Aufwand für die Verwaltung bedeutet. Ist da was dran?
Wittmann: Es gibt empirischen Untersuchungen von Gemeinden, die schon lange eine Baumschutzverordnung haben. Nach diesen Untersuchungen beträgt der personelle Aufwand für die Durchsetzung einer Baumschutzverordnung durchschnittlich etwa eine Stunde pro Monat und 1000 Einwohner, das wären also 11 Stunden in Herrsching. Statt ständig über die möglichen Kosten und den Personalaufwand einer Baumschutzverordnung zu jammern, sollte man nach Lösungen suchen. Auch innerhalb einer Kommune können Synergieeffekte genutzt und ausgeschöpft werden. Es geht darum, vorausschauend zu planen, damit bestimmte Werte und Funktionen auch in der Zukunft den uns nachfolgenden Generationen zur Verfügung stehen. Dies rechtfertigt meiner Meinung nach auch den personellen Aufwand zur Durchsetzung einer Baumschutzverordnung.
herrsching.online: Im Außenbereich dürfen keine Bäume gefällt werden, sagt die Verwaltung. Nur in besiedelten Gebieten, in denen kein Landschaftsschutzgebiet bestehe, dürfe ohne Genehmigung gefällt werden. Es handelt sich also erkennbar um das Stadtklima. Darf hier die Kettensäge ohne jede behördliche Intervention rattern?
Wittmann: In den Bauleitplanungen wird der schützenswerte Baumbestand leider nicht im erforderlichen Umfang festgeschrieben. Ein aktuelles Beispiel hierfür findet sich bei einem Grundstück in der Gachenaustraße mit einem Bebauungsplan aus dem Jahr 2021, wo kürzlich umfangreiche Baumfällungen für ein Bauprojekt zu beobachten waren. Die Bauleitplanung ist lediglich einer der erforderlichen Schutzmechanismen. Sie entfaltet aber nur Wirkung im Verbund mit anderen ortsrechtlichen Regelungen. Eine Baumschutzsatzung ist, wie ein Bebauungsplan, ein Lenkungsinstrument einer Kommune, mit dem sie eine langfristige Entwicklung steuern möchte. Langfristigkeit ist hier das entscheidende Stichwort.
Wo kann sich der Bürger informieren?
herrsching.online: Wo kann sich der Bürger über Sinn und Unsinn von Baumschutzverordnungen informieren, bevor er seine Stimme abgibt? In besagtem Artikel wird auf die alte Baumschutzverordnung verwiesen, die man einsehen könne. Aber die steht ja gar nicht mehr zur Diskussion?
Wittmann: Die Gemeinde Herrsching weist darauf hin, dass weitere Informationen im Internet recherchiert werden können. Seit Oktober 2023 trägt die Gemeinde Herrsching das Prädikat „Digitales Amt“. Durch den Bürgermeister wurde mitgeteilt, dass das digitale Angebot stetig erweitert wird.
Statt die Bürgerinnen und Bürger Herrschings aufzufordern, sich bei Interesse die Fassung einer früher gültigen Baumschutzverordnung im Rathaus anzusehen, sollte die Gemeinde dem Prädikat „Digitales Amt“ gerecht werden und dieses Dokument auf der Website der Gemeinde zugänglich machen. Zur Meinungsbildung hilfreich wäre auch die Veröffentlichung des Schreibens der Kommunalaufsicht bezüglich der damaligen Baumschutzverordnung. Informationen zum Thema finden Interessierte auf den Internetseiten von Pro Natur Herrsching, dem Zentrum Stadtnatur und Klimaanpassung und dem BUND Naturschutz.
herrsching.online: Sie fühlen sich von der Gemeinde also nicht ausreichend und seriös informiert?
Wittmann: Diese Frage müssen Sie den Herrschinger Stimmberechtigten stellen.
Vielen Dank für das Interview, ich bin wieder einmal beeindruckt über die großen Kenntnisse von Norbert Wittmann in Bezug auf die Materie rund um die Baumschutzverordnungen. Eine Gemeinde wie Herrsching könnte sich eigentlich glücklich schätzen, so viel Fachwissen in der Bürgerschaft vorfinden zu können; und es gibt ja auch noch weitere Personen, die sich enorm in das Thema eingearbeitet haben. Das Klima in Herrsching wird es gut brauchen können. Ich stelle mir gerade vor, wie positiv sich Herrsching entwickeln würde, wenn Verwaltung, Gemeinderat und Bürgerschaft (siehe Know-how von Norbert Wittmann und MitstreiterInnen) konstruktiv zusammen arbeiten würden, statt sich gegenseitig immer wieder Vorwürfe zu machen.