Die Historikerin Dr. Friederike Hellerer leitet das Gemeindearchiv in Herrsching. Ihre Forschungen zur „Euthanasie" leisten einen wertvollen Beitrag zur Aufarbeitung der Nazi-Gräuel im Landkreis. Foto: Gerd Kloos

„Schrecklich, dass diese Opfer verschwiegen werden”

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Über das Wochenende begegnet Herrsching seiner dunklen Vergangenheit. Die Gemeindearchivarin Dr. Friederike Hellerer hat sich in intensiven wissenschaftlichen Untersuchungen mit dem grauenvollen Thema „Euthanasie” beschäftigt. Über 50 Menschen, denen die Nazis das Lebensrecht abgesprochen hatten, wurden im Landkreis Starnberg umgebracht. Hellerer will mit einer Ausstellung vom 11. bis 13. November im Rathaussaal in Herrsching diesen Menschen ein Denkmal setzen: „ Ich finde es schrecklich, dass diese Opfer des Nationalsozialismus verschwiegen werden”, sagt sie im Interview mit herrsching.online. Die Ausstellung ist vom Freitag bis Sonntag von 15 bis 18 Uhr geöffnet. Am Freitag und Sonntag (Beginn: 16 Uhr) führt die Historikerin in einem Vortrag in das Thema ein.

herrsching.online: Was erwartet uns im Rathaussaal mit Ihrer Ausstellung?

Hellerer: Es wird eine schmerzhafte Ausstellung, weil es um „Euthanasie“ im Landkreis Starnberg geht. Nach meinen Forschungen gab es über 50 Opfer im Rahmen der T4- und dezentralen Mordaktion. Ich habe bei meiner Forschung außerdem über 200 Zwangssterilisationsopfer gefunden. Dabei war die Zwangssterilisation nur ein erster Schritt. Es betraf körperlich und/oder geistig behinderte Menschen. Als „behindert“ galten bei den Nationalsozialisten auch Menschen, die blind, taub oder stumm waren. Und es betraf Menschen, die als „liederlich” bezeichnet wurden, zum Beispiel unverheiratete Frauen, die schwanger wurden, oder Frauen, die Kinder von 2 verschiedenen Männern bekamen. Auch solchen Frauen drohte die Zwangssterilisation.

In der Ausstellung versuche ich zu thematisieren, was damals geschehen ist. Viele wissen nichts davon, oder es wird einfach verdrängt. Und in den Familien wird nicht darüber gesprochen. Ich habe im Rahmen meiner Forschungen Familien getroffen, die aus allen Wolken gefallen sind, weil sie nichts über das Schicksal ihrer Angehörigen wussten oder nur vage Erinnerungen hatten: Ja, da war mal was… Ich finde es schrecklich, dass diese Opfer des Nationalsozialismus verschwiegen werden. Dabei will ich nicht, dass verschiedene Opfergruppen gegeneinander ausgespielt werden. Aber man sollte nicht nur der jüdischen Opfer gedenken, sondern auch an diese Menschen erinnern. Das ist mein Anliegen.

herrsching.online: Haben Sie Opferlisten in den Archiven gefunden?

Hellerer: Nein, das ist eine mühevolle Arbeit, alle Opfernamen zusammenzutragen. In den Archiven gibt es natürlich Unterlagen dazu, aber die Fälle muss man akribisch zusammensuchen. Zum Beispiel im Staatsarchiv München. Da kommt man aber nicht einfach an die Akten, da muss man zuerst einmal Anträge auf Fristverkürzung stellen. Aber diese Menschen wurden umgebracht, die muss man nicht mehr schützen, sondern ihr Schicksal publik machen.

herrsching.online: Auch da gilt der Datenschutz, obwohl die Ereignisse 88 Jahre zurückliegen?

Hellerer: Ja, die Zwangssterilisationen begannen 1934…

herrsching.online: …gerade mal 1 Jahr nach der Machtergreifung.

Hellerer: … viele dieser Menschen wurden später umgebracht. Und 70 Jahre danach unterliegen die Unterlagen eigentlich keinem Datenschutz mehr.

herrsching.online: Welche Rolle hat damals der in Herrsching lebende sogenannte Rassenhygieniker Alfred Ploetz gespielt?

Hellerer: Er war der Vordenker dieser Rassenideologie und Rassenhygiene. Diese ganze Rassenideologie wird von der modernen Wissenschaft als Konstrukt bezeichnet. In diesem Konstrukt war die Überlegenheit der arischen Rasse verankert.

herrsching.online: Wie finden Sie es, dass heute noch ein Sträßlein nach diesem Mann benannt wurde.

Hellerer: Diese Straßenbenennung ist nicht meine Sache. Das ist die Angelegenheit des Gemeinderats.

herrsching.online: Der Schriftsteller Uwe Timm hat damals einen Roman über den Fall geschrieben…

Hellerer: Ich habe Timm nach Herrsching gebracht und mit ihm im Haus der Bayerischen Landwirtschaft eine Lesung mit 300 Zuhörern veranstaltet. Timm ist verheiratet mit der Enkelin von Alfred Ploetz. In dieser Familie gibt es eben unterschiedliche Bezüge zum Großvater.

herrsching.online: Gibt es in Herrsching Widerstände gegen die Aufarbeitung der Vergangenheit?

Hellerer: Nein, Widerstände gibt es nicht. Aber es gibt sehr wohl Leute, die diese Aufarbeitung nicht unterstützen.

herrsching.online: Warum ist das Thema jetzt wieder aufgeploppt?

Hellerer: Das Thema „Euthanasie“ wird erst seit etwa 15 Jahren intensiv bearbeitet. Es hat anfangs sehr großen Widerstand der Archivare gefunden, weil sie glaubten, die Persönlichkeitsrechte schützen zu müssen. Und dann gab es Forscher wie Michael von Cranach, die sich über das Namensnennungsverbot hinweg setzen. In München ist ein dickes Buch über die „Euthanasie“-Opfer erschienen, in dem Namen sehr wohl genannt werden. Ich glaube aber, dass das auf die Unsicherheit der Archive zurückzuführen ist. Ich habe unterschrieben, dass ich die Opfernamen nicht nenne,  aber ich nenne sie sehr wohl. Das sind aber Fälle, in denen ich die Familien fragen konnte oder von denen ich weiß, dass es keine Nachkommen gibt.

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