Vormittags: Franz Bissinger, 63, sitzt beim Anwalt. Die Sachlage ist kompliziert, aber Bissinger gibt nie auf. Er konsultiert den Anwalt nicht in eigener Sache, der Herrschinger hilft einer Flüchtlingsfrau aus Sierra Leone. Nachmittags endlich Feierabend oder zumindesten Zeit für seine eigene Firma, die fremdsprachige Software übersetzt. In die Hoffnung platzt der Anruf eines afghanischen Asylbewerbers. Sein Vater sei in Teheran gestorben, er brauche Zuspruch. Bissinger lenkt seinen Citroen Richtung Andechs, spendet Trost. Abends: endlich fernsehen oder lesen. Da klingelt das Handy, eine Frau aus Nigeria muss dringend mit ihm besprechen, wie sie ihr Kind zurückbekommt. Das Jugendamt hatte es in ein Heim gesteckt, weil die Frau angeblich Drogen nehme und Alkohol-abhängig sei. Nichts davon, hatte Bissinger in detektivischer Arbeit herausgefunden, stimmte. So sieht das Leben aus, wenn man ein guter Mensch ist und als Sprecher des Herrschinger Helferkreises arbeitet – für das stolze Gehalt von null Euro. herrsching.online hat er erzählt, warum er sein Leben den Flüchtlingen widmet.
herrsching.online: Was macht ein Asylhelfer?
Bissinger: Ich sehe meine Aufgabe darin, Menschen auf Anhörungen in den Behörden oder auf Gerichtsverhandlungen vorzubereiten. Dazu braucht es ein sehr tiefes Vertrauensverhältnis zwischen dem Asylsuchenden und mir.
herrsching.online: Wie muss man sich das vorstellen?
Bissinger: Ich lasse mir die Geschichte erzählen, die zur Flucht geführt hat. Das sind meistens stundenlange Sitzungen, in denen man sich langsam herantastet. Die Menschen sind durch die Flucht so tief betroffen, dass sie vieles nicht sagen können oder sagen wollen. Wenn die Menschen aber nicht darauf vorbereitet sind, ihre ganze Geschichte zu erzählen, erzählen sie oft wichtige Details nicht im Gerichtssaal oder beim BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtling). Und dann fallen sie in dem Verfahren durch, weil ihre Geschichten Löcher haben oder unglaubwürdig sind. Sie erzählen ihre schlimmen Erfahrungen nicht, weil sie sie nicht erzählen können. In der Regel lügen sie aber nicht. Ich versuche bei den Vorbereitungen, die Widersprüche aufzudecken und mich so an die wahre Geschichte heranzutasten.
herrsching.online: Sie vermitteln den Asylsuchenden aber keine Tricks oder Standard-Antworten, die vor Gericht helfen würden?
Bissinger: Das mache ich ganz sicher nicht und das würde auch gar nicht funktionieren. In solchen Fragen muss man aus Prinzip immer bei der Wahrheit bleiben. Das ist Lebensmaxime von mir. In den meisten Fällen ist die Wahrheit schrecklich genug und hat außerdem den Vorteil, dass man sich nicht in Widersprüche verwickelt. Es gibt aber verschiedene Sichtweisen der Wahrheit. Man muss die Wahrheit so wiedergeben, dass sie nicht mehr interpretiert werden kann.
herrsching.online: Wie viele Leute arbeiten denn noch im Helferkreis mit?
Bissinger: Wir haben 20 Leute, die sichtbar mitarbeiten.
herrschling.online: Was Sie uns erzählen, klingt nach einem nicht bezahltem Vollzeitjob.
Bissinger: Eigentlich bin ich ja berufstätig, aber meine Tätigkeit im Helferkreis ist tatsächlich fast eine Vollzeitstelle.
herrsching.online: Was treibt Sie an, sich in diesen Aufgabenbereich so reinzuhängen?
Bissinger: Kurz und bündig: Es ist nötig. Jede Woche nehm ich mir vor, etwas weniger Zeit zu investieren. Aber es geht nicht.
herrsching.online: Welche Aufgaben beschäftigen Sie denn so stark? Drohende Abschiebungen?
Bissinger: Nein, Abschiebungen waren in Herrsching kein großes Thema. Wenn mich das Gedächtnis nicht im Stich lässt, hatten wir in Herrsching nie eine Abschiebung. Es sind die Vorbereitungen auf entscheidende Anhörungen und letztendlich die gesamte Behördenarbeit, die eigentlich erst so richtig nach der Anerkennung der Menschen beginnt. Diese Arbeit ist enorm aufwändig und kommt nie an ein Ende. Mit Abschiebungen habe ich dagegen eher in letzter Zeit über Freunde und Verwandte von Herrschinger Flüchtlingen zu tun, von denen ich oft zu Rate gezogen werde.
herrsching.online: Beispiele?
Bissinger: Ja, da war kürzlich ein Fall des Verwandten einer Person, die in Herrsching lebt. Dem wurde in Dachau völlig ohne Vorwarnung die Duldung und damit die Arbeitserlaubnis und als Folge das Leben in der eigene Wohnung entzogen. Stattdessen wurde ihm eine sogenannte Grenzübertrittsbescheinigung in die Hand gedrückt. Er war dann so von der Rolle, dass er 2 oder 3 Wochen gar nichts unternommen hatte. Als er dann doch eine Anwältin eingeschaltet hatte und in seiner Wohnung Unterlagen abholen wollte, wurde er verhaftet und am nächsten Tag in den Flieger nach Sierra Leone gesetzt. Die Ausländerbehörde hat dazu aber eine andere Version.
herrsching.online: Welche Aufgaben liegen im Helferkreis noch an?
Bissinger: Zuerst versuche ich, den Helferkreis zusammenzuhalten. Und ich vertrete ihn nach außen, zum Beispiel gegenüber der Regierung von Oberbayern und dem Landratsamt Starnberg. Einmal im Monat treffen sich zudem die Leiter aller Helferkreise im Kreis.
herrsching.online: Werden Sie von den Behörden akzeptiert?
Bissinger: Ja, wenn man kein unangenehmes Thema hat.
herrsching.online: Was ist ein unangenehmes Thema?
Bissinger: Dieses Jahr hatten wir den Fall einer ansteckenden Krankheit, einer Lungenkranheit. Die betreffende Person musste ins Krankenhaus und kam anschließend in Quarantäne. Wegen ihrer Kinder gab’s dann aber viele Auseinandersetzungen und auch, weil ihr grundlegende Rechte wie das Recht auf ärztliche Auskunft verweigert wurden.
herrsching.online: Wird in den Behörden manchmal getrickst, um Flüchtlinge loszuwerden?
Bissinger. Ja. Das geschieht bayernweit aktuell häufig, aber meines Wissens bisher nicht in Starnberg. Geduldete Menschen werden unter einem Vorwand in die Ausländerbehörden bestellt, dort aber in Abschiebehaft genommen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass vor Inkrafttreten des neuen Chancen-Aufenthalts möglichst viele Menschen noch schnell abgeschoben werden sollen.
herrsching.online: Gibt es politischen Druck von oben auf die Ausländerbehörden?
Bissinger. Kann ich nicht beurteilen.
herrsching.online: Wie reagieren die betreuten Asylsuchenden auf Ihre Hilfe? Mit Dankbarkeit?
Bissinger: Ja, die Leute sind sehr dankbar. Fast täglich höre ich ein „God bless you“. Bei Leuten, denen ich bekannt bin, fällt es ganz leicht, Hilfe anzubieten. Bei Asylsuchenden, die in der Gemeinschaft selber isoliert leben, ist es schwer, das Vertrauensverhältnis herzustellen. Manche Menschen sind sehr misstrauisch, die muss man erst einmal öffnen.
herrsching.online: Haben Sie Charakterunterschiede zwischen einzelnen Volksgruppen festgestellt?
Bissinger: Ja, sicher. Es sind aber eher kulturelle als Charakterunterschiede. Menschen aus afrikanischen Kulturen mit Kolonialerfahrung wirken zunächst meist aufgeschlossener als Menschen aus eher islamisch geprägten Kulturen. Allerdings besteht häufig Mißtrauen der weißen Gesellschaft gegenüber, was ja reale Ursachen hat und nicht leicht zu überwinden ist. Hat man’s aber mal überwunden, kann die Verbindung recht eng werden, quasi bis zur Aufnahme in die Familie. Das ist bei Menschen aus Ländern wie Afghanistan weit schwieriger. Es gibt natürlich auch noch ganz normale Unterschiede zwischen den Angehörigen einzelner Nationen und Volksgruppen.
herrsching.online: Spüren Sie eine gewisse Dankbarkeit, dass sie in Deutschland in einer – relativen – Sicherheit sind?
Bissinger: Ja, auf jeden Fall.
Ich finde es prima, dass die Asylgemeinschaft auf dem Herrschinger Weihnachtsmarkt vertreten ist. Da werde ich am Sonntag vorbeischauen und kontakten und Plätzchen einkaufen. Ich freue mich schon.
Ja die Arbeit wird durch die Dankbarkeit, Liebe und Gastfreundschaft der betreuten Familien reichlich belohnt. Bloß die unendlichen Behördenanforderungen zehren gewaltig an den Nerven. Und es ist nicht nur der schlechtbezahlteste Job, sondern man darf auch noch Geld für Sprit, Papier, Kopien, Telefonate etc. hinein investieren. Und diese Investitionen sind dann nicht einmal steuerlich absetzbar.
Ohne Ehrenamtliche, die aber so garnicht geehrt werden, wäre unser Staat jedoch ganz schön aufgeschmissen.
In der Herrschinger Unterkunft gibt es inzwischen viele neu angekommene Geflüchtete, die keine Betreuer mehr haben, obwohl das dringend nötig wäre.
Nach den langen Jahren seit 2015 sind viele der ursprünglichen Helfer*innen ausgebrannt und zerrieben von Bürokratie und schwer erträglichem Leid vieler Fluchtgeschichten.
Vielleicht führt die genaue facettenreiche Jobbeschreibung des Helferkreissprechers dazu, dass sich neue Menschen finden, die im Helferkreis mitarbeiten möchten.
Alle, die noch dabei sind, können bestimmt unterstreichen, dass es sich durchaus auch für einen selbst lohnt über den eigenen Tellerrand hinauszublicken und sich auf andere „Welten“ einzulassen, die man sonst allzu gerne ausblendet.
Es muss ja nicht gleich zum Vollzeitjob werden, auch Teilzeitkräfte sind willkommen!